Als das Wasser kochte, goss Amina es in die Teekanne. Sie schüttelte noch einmal den Kopf, ging zurück zu den Listen und machte sich wieder an die Arbeit. Richtig konzentrieren konnte sie sich allerdings nicht mehr.
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Sie waren noch einmal in die Mühle gegangen. Der Flaschenzug hatte sich am Nachmittag auf der Schiene verhakt und ging weder vorwärts noch zurück. Falk rieb sich das Kinn. „Irgendjemand muss da rauf, so viel ist klar. Und“, sagte er zu Quentin gewandt, „was glaubst Du wohl, wer das sein wird?“
Quentin verdrehte die Augen. „Bitte Meister, muss das sein? Mir wird so weit oben immer schwindelig. Kann das nicht Medard übernehmen?“
Medard saß auf einem Getreidesack und grinste Quentin an. „Nö, kann ich nicht. Erstens bin ich zu schwer für das dünne Holz, und zweitens ist es ein größerer Schaden für den Meister, wenn ich runterfalle, als wenn Du das Vögelchen machst.“ Er grinste noch breiter. „Also zier Dich nicht, zeig mal, was in Dir steckt, tapferer Müllerssohn!“
Falk sah zu Medard hinüber. „Nun lass mal gut sein, Medard. Quentin wird das schon machen.“ Und zu Quentin gewandt fuhr er fort: „Ich habe die lange Leiter an die Baustelle nebenan ausgeliehen, da ist jetzt aber keiner mehr. Also müssen wir uns selbst behelfen. Und da bleibt leider nur der Weg an der Wand hinauf und dann in der Schräge hinüber zur Schiene. Medard und ich werden hier unten aufpassen und Dich auffangen, falls Du abstürzt. Aber das glaube ich nicht. Du bist doch ein gelenkiger und kräftiger Kerl!“ Aufmunternd klopfte er Quentin auf die Schulter. „Na dann mal los!“
Zweifelnd blickte Quentin an der Wand hinauf und die Schräge entlang zur Laufschiene. Die Wand würde wohl kein Problem sein, schließlich war er schon auf unzählige Bäume geklettert. Aber die Schräge! Nicht nur, dass er nicht einfach gerade hinüber, sondern gleichzeitig auch noch weiter ins Dach hinauf klettern musste, um zur Schiene zu gelangen – er musste diese Strecke auch noch allein mit den Händen bewältigen! Seine Füße würden die ganze Zeit nutzlos unter ihm in der Luft baumeln, während sein ganzes Gewicht an seinen Händen hing. Quentin sprach sich selbst noch einmal Mut zu, holte tief Luft und machte sich dann an den Aufstieg.
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Er hatte sich geirrt, sogar das erste Stück war schon schwierig. Die Bretter waren im unteren Teil gut verfugt, damit es in der Mühle keinen Durchzug gab. Immerhin hatte Quentin noch einen Pfosten zu seiner Rechten, an dem er sich zusätzlichen Halt suchen konnte. Aber nach jedem Griff musste er wieder Vorsprünge oder Astlöcher suchen, die ihm den weiteren Weg ermöglichten. Stück für Stück arbeitete Quentin sich hinauf. Seine Arme fingen bereits an zu schmerzen, dabei war er noch nicht einmal am Ende der senkrechten Wand angekommen.
Dann endlich hatte er die erste Pfette erreicht. Ächzend zog er sich nach oben und schwang die Beine auf den stabilen Längsbalken. Jetzt lag er lang ausgestreckt in dem schmalen Winkel zwischen Pfette und Dach. Staub kitzelte in seiner Nase. Von unten kam Applaus. „Gut gemacht, Kleiner! Wenn Du den Rest der Strecke in der gleichen Geschwindigkeit schaffst, solltest Du ernsthaft überlegen, ob Du nicht lieber als Affe zum Zirkus gehen willst“, spottete Medard herauf. Quentin war jetzt schon mehr als dreimal so hoch, wie Medard groß war. Aber bis zur Schiene war es noch sehr weit.
„Ruh Dich erst einmal ein bisschen aus, schüttele die Hände und Arme, dann kann das Blut besser zirkulieren!“ Falk schaute ruhig und zuversichtlich zu ihm hinauf. Das machte wieder ein wenig Mut. Quentin befolgte den Rat des Müllers und bewegte die Hände und Arme, um sich etwas zu entspannen. Tatsächlich spürte er schnell, wie sich die verkrampften Muskeln wieder lösten.
Hier oben fingen die Sparren an, die das Dach trugen. Die Bretter der Wandseite wurden von Latten abgelöst, auf der Außenseite der Lattung lagen die Dachziegel. Quentin musste sich jetzt an den Latten nach oben ziehen und alle paar Handgriffe um einen Dachsparren herumgreifen.
Er atmete noch einmal tief durch. Dann suchte er mit den Augen nach der ersten günstigen Latte und zog sich hoch. Er hatte sich überlegt, pro Sparren immer drei Latten aufwärts zu klettern. Dann würde er ungefähr in gerader Linie auf sein Ziel zusteuern und brauchte sich nicht immer neu zu orientieren.
Die ersten Sparren hatte er noch recht zügig überwunden. Aber Quentin merkte sehr schnell, dass er nur mit eisernem Willen sein Ziel erreichen würde. Der untere Abschnitt hatte ihn mehr Kraft gekostet, als er gedacht hatte.
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Bei jedem Griff, mit jedem Hochziehen wurde er schwächer. Seine Seiten glühten, seine Arme brannten. Sein ganzer Körper war schweißgebadet. Manchmal lief ihm ein Tropfen in die Augen und entfachte dort ein zusätzliches, salziges Feuer.
Die Hände konnten irgendwann vor Schmerz kaum noch greifen. Trotzdem schlossen sie sich die Finger wie mechanisch immer wieder um das nächste Holz. Bis nach oben war es immer noch ein gutes Stück, aber er konnte sein Ziel schon erkennen. Nur nicht nachlassen! Weiter! Weiter!
Eine Pause konnte er sich nicht leisten, das wusste er genau. Wenn er auch nur eine einzige Sekunde zögerte, würde sein ausgebrannter Körper seinem Willen nicht weiter gehorchen. Die unweigerliche Folge wäre ein Absturz in die gähnende Tiefe, aus der er sich bis hierher hochgekämpft hatte. Und wenn er aus dieser Höhe fiel, dann würde er sich beim Aufprall garantiert jeden einzelnen Knochen im Leib brechen.
Jetzt konnte er das letzte Querholz deutlich sehen.
Nur noch wenige Griffe.
Ein letztes Mal noch den ganzen Willen aufbringen.
Der ganze Körper ein einziger brennender Schmerz.
Die Hände nicht mehr spüren, nur noch sehen, wie sie trotz allem immer noch funktionieren.
Dann war er oben. Mit einer letzten Anstrengung zog er sich über die Kante. Anschließend lag er minutenlang regungslos mit dem Gesicht im Staub. Sein ganzer Körper zitterte von der fast übermenschlichen Anstrengung.
Seine Hände kamen nach vorn auf Höhe der Schultern. Die Arme drückten zitternd den Oberkörper hoch, dann zog er erst das eine, dann das andere Knie an und setzte sich auf seine Fersen. Vorsichtig und immer noch heftig zitternd brachte er einen Fuß nach vorn und ging in die Hocke. Endlich richtete er sich mit einem gequälten Stöhnen auf.
Mit einem langen Jubelschrei, in dem all der Schmerz und alle überstandene Anstrengung vereint waren, schleuderte Milan seinen Triumph über den Abgrund hinweg den letzten Strahlen der untergehenden Sonne entgegen.
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Das merkwürdige Gefühl war noch einmal wiedergekommen. Wieder war es verbunden mit Bildern von Milan. Aber dieses Mal kündete das Gefühl von unendlicher Anstrengung, Erschöpfung und schließlich von Sieg.
Amina konnte nicht dagegen ankämpfen. Zu intensiv waren die Wogen von Gefühlen, die ihren Geist durchfluteten. Die Feder, mit der sie geschrieben hatte, lag neben der angefangenen Liste, ein Tintentropfen fiel auf das Blatt Papier. Unbeweglich starrte Amina auf einen Punkt, der weit außerhalb ihres kleinen Kontors liegen musste.
Am Schluss, als die Bilder wieder verblassten, war ihr Gesicht nass von Tränen. Nun war sie sich sicher: Sie hatte eine Ahnung gehabt. Milan hatte etwas Schreckliches erlebt, war dem Tode nahe gewesen, aber schließlich hatte er die Gefahr überwunden.
Mit aller Kraft sandte sie Milan einen Gedanken. In diesem Gedanken schickte sie ihre Erleichterung und ihre Hoffnung auf Milans baldige Ankunft durch die hereinbrechende Nacht.
Dann machte sie sich zu Adina auf den Weg. Das musste sie ihr erzählen!
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Es war doch leichter gewesen, als Quentin gedacht hatte. Die Latten lagen in einer günstigen Griffweite, und so konnte er recht schnell bis zur Schiene emporklettern. Natürlich war es anstrengend gewesen. Aber der Weg nach unten ging ja am Seil hinab.
Der Flaschenzug hatte sich nur neben die Schiene gesetzt. Quentin