Hans Christian Andersen - Gesammelte Werke. Hans Christian Andersen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Christian Andersen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746750194
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laßt uns nun Menschen sein!« »O, entsinnst Du Dich der hübschen Mädchen, die unter dem ausgespannten Zelte bei den blühenden Bäumen tanzten? Entsinnst Du Dich der süßen Früchte und des kühlenden Saftes in den wild wachsenden Kräutern?«

      »O ja,« sagte der Papagei; »aber hier habe ich es besser! Ich habe gutes Essen und eine feine Behandlung; ich weiß, ich bin ein guter Kopf, und mehr verlange ich nicht. »Laßt uns nun Menschen sein!« Du bist eine Dichterseele, wie die es nennen. Ich habe gründliche Kenntnisse und Witz; Du hast Genie, aber keine Besonnenheit, Du steigst in diese hohen Naturtöne hinauf, und deshalb wirst Du zugedeckt. Das bietet man mir nicht; nein, denn ich habe ihnen etwas mehr gekostet! Ich imponire mit meinem Schnabel und kann mit »Witz« um mich werfen. »Nein, laßt uns Nun Menschen sein!«

      »O mein armes, blühendes Vaterland!« sang der Kanarienvogel; »ich will Deine dunkelgrünen Bäume und Deine stillen Meerbusen besingen, wo die Zweige die klare Wasserfläche küssen; singen von dem Jubel aller meiner schimmernden Brüder und Schwestern, wo »der Wüste Quellenpflanzen wachsen!«

      »Laß doch nur diese elegischen Töne!« sagte der Papagei. »Singe Etwas, worüber man lachen kann! das Lachen ist das Zeichen des höchsten geistigen Standpunktes. Sieh, ob ein Hund oder Pferd lacht! Nein, weinen können sie, aber lachen – das ist allein dem Menschen gegeben. Ho, ho, ho!« lachte das Papchcn und fügte seinen Witz: »Laßt uns nun Menschen sein!« hinzu.

      »Du kleiner, grauer, nordischer Vogel,« sagte der Karnarienvogel; »Du bist auch Gefangener geworden! Es ist sicher kalt in Deinen Wäldern, aber da ist doch die Freiheit. Fliege hinaus! Man hat vergessen Deinen Käsig zu schließen; das oberste Fenster steht auf. Fliege, fliege!«

      Instinctmäßig gehorchte der Copist und war aus dem Käfige; in demselben Augenblicke knarrte die halbgeöffnete, Thür zum nächsten Zimmer, und geschmeidig, mit grünen, funkelnden Augen, schlich die Hauskatze herein und machte Jagd auf ihn. Der Kanarienvogel flatterte im Käfige, der Papagei schlug mit den Flügeln und rief: »Laßt uns nun Menschen sein!« Der Copist fühlte den tödtlichen Schreck und flog durch das Fenster, über die Häuser und Straßen davon; zuletzt mußte er etwas ausruhen.

      Das gegenüberliegende Haus hatte etwas Heimisches. Ein Fenster stand offen; er flog hinein; es war sein eigenes Zimmer; er setzte sich auf den Tisch.

      »Laßt uns nun Menschen sein!« sprach er unwillkürlich dem Papagei nach, und in demselben Augenblicke war er der Copist; aber er saß auf dem Tische.

      »Gott bewahre mich!« sagte er. »Wie bin ich hier herauf gekommen und so in Schlaf verfallen! Das war auch ein unruhiger Traum, den ich hatte. Dummes Zeug war doch die ganze Geschichte.«

      Am darauf folgenden Tage, in der frühen Morgenstunde, als der Copist noch im Bette lag, klopfte es an seine Thür; es war sein Nachbar in derselben Etage, ein junger Theologe; er trat herein.

      »Leihe mir deine Gallochen,« sagte er; »es ist sehr naß im Garten, aber die Sonne scheint herrlich: ich möchte wohl eine Pfeife dort unten rauchen.«

      Die Gallochen zog er an und bald war er unten im Garten, welcher einen Pflaumen- und einen Apfelbaum enthielt. Selbst ein so kleiner Garten, wie dieser, gilt im Innern großer Städte für eine Herrlichkeit.

      Der Theologe wanderte im Garten auf und nieder, die Uhr war erst Sechs; draußen auf der Straße ertönte ein Posthorn.

      »O, Reisen! Reisen!« rief er aus; »das ist doch das größte Glück in der Welt! Das ist meiner Wünsche höchstes Ziel! Da würde diese Unruhe, die ich fühle, gestillt werden. Aber weit fort müßte es sein! Ich möchte die herrliche Schweiz sehen, Italien bereisen und –«

      Ja, gut war es, daß die Gallochen sogleich wirkten, sonst wäre er gar zu weit, sowohl für sich selbst, wie für uns Andere herumgekommen. Er reiste. Er war mitten in der Schweiz, aber mit acht Andern in das Innere einer Diligence gepackt. Er hatte Kopfschmerzen, fühlte sich müde im Nacken, und das Blut war ihm in die Füße getreten, die angeschwollen waren und von den Stiefeln gedrückt wurden. Er schwebte in einem Zustande zwischen Schlafen und Wachen. In seiner Tasche zur Rechten hatte er das Accreditiv, in seiner Tasche zur Linken den Paß und in einem kleinen Lederbeutel auf der Brust einige eingenähte Louisd'or. Jeder Traum verkündete, daß er die eine oder die andere von diesen Kostbarkeiten verloren habe, und deshalb fuhr er fieberartig empor, und die erste Bewegung, welche die Hand machte, war ein Dreieck von der Rechten zur Linken und gegen die Brust hinauf, um zu fühlen, ob er seine Sachen noch habe, oder nicht. Schirme, Stöcke und Hüte schaukelten im Netze über ihm und benahmen so ziemlich die Aussicht, die höchst imponirend war; er schielte darnach, während das Herz sang, was wenigstens schon ein Dichter, den wir kennen, in der Schweiz gesungen, bis jetzt aber noch nicht hat drucken lassen:

      Hier ist's so schön, wie das Herz nur will,

      Montblanc seh ich, den steilen

      Wenn nur das Geld ausreichen will,

      Ach, dann ist hier gut weilen.

      Groß, ernst und dunkel war die Natur rings um ihn her. Die Tannewälder erschienen wie Haidekraut auf den hohen Felsen, deren Gipfel im Wolkennebel verborgen waren; nun begann es zu schneien, der Wind blies kalt.

      »Uh!« seufzte er; »wären wir doch auf der andern Seite der Alpen, dann wäre es Sommer, und ich hätte Geld auf mein Accreditiv erhoben; die Angst, die ich für dieses fühle, macht, daß ich die Schweiz nicht genieße. O, wäre ich doch erst auf der andern Seite!«

      Und da war er auf der andern Seite; mitten in Italien, zwischen Florenz und Rom. Der trasimenische See lag in der Abendbeleuchtung wie flammendes Gold zwischen den dunkelblauen Bergen. Hier, wo Hannibal den Flaminius schlug, hielten sich nun die Weinranken friedlich an den grünen Fingern; liebliche, halbnackte Kinder hüteten eine Heerde schwarzer Schweine unter einer Gruppe duftender Lorbeerbäume am Wege. Könnten wir dieses Gemälde richtig wiedergeben, so würden Alle jubeln: »Herrliches Italien!« Aber das sagte keineswegs der Theologe oder irgend einer von seinen Reisegefährten im Wagen des Vetturins.

      Giftige Fliegen und Mücken flogen bei ihnen zu Tausenden in den Wagen hinein. Vergebens schlugen sie mit einem Myrtenzweige um sich: die Fliegen stachen dessenungeachtet. Es war nicht Einer im Wagen, dessen Gesicht nicht von blutigen Stichen angeschwollen gewesen wäre. Die armen Pferde sahen wie Aas aus; die Fliegen saßen in großen Schaaren auf denselben, und es half nur augenblicklich, daß der Kutscher hinabstieg und die Thiere reinschabte. Nun sank die Sonne unter; eine kurze aber eisige Kälte ging durch die ganze Natur; es war wie des Grabgewölbes kalte Luft nach einem heißen Sommertage; doch ringsumher erhielten Berge und Wolken den sonderbaren, grünen Ton, welchen wir auf einzelnen alten Gemälden finden und,, wenn wir ein solches Farbenspiel nicht im Süden erlebt haben, für unnatürlich halten. Es war ein herrliches Schauspiel, allein – der Magen war leer, der Körper ermüdet; alle Sehnsucht des Herzens drehte sich um ein Nachtquartier, aber wie wird das ausfallen! Man blickte sehnsüchtiger darnach, als nach der schönen Natur.

      Der Weg ging durch einen Olivenwald; es war, als führe er daheim zwischen knotigen Weiden. Hier lag das einsame Wirthshaus. Ein Dutzend bettelnder Krüppel hatte sich vor demselben gelagert; der rascheste derselben sah aus wie, um einen Marryat'schen Ausdruck zu gebrauchen, »der älteste Sohn des Hungers, der das Alter seiner Volljährigkeit erreicht hat«; die Andern waren entweder blind, oder hatten den Schwund in den Beinen und krochen auf den Händen, oder verdorrte Arme mit fingerlosen Händen, Das war das Elend recht aus den Lumpen gezogen. »Eccellenza, miserabili!« seufzten sie und streckten die kranken Glieder vor. Die Wirthin selbst, in bloßen Füßen, mit ungeordnetem Haare und nur mit einer schmutzigen Blouse bedeckt, empfing die Gäste. Die Thüren waren mit Bindfaden zusammengebunden; der Fußboden in den Zimmern bot ein halb aufgewühltes Pflaster von Mauersteinen dar; Fledermäuse flogen unter der Decke hin, und der Gestank drinnen – –

      »Decken Sie den Tisch unten im Stalle!« sagte einer der Reisenden. »Dort weiß man doch, was man einathmet!«

      Die Fenster wurden geöffnet, damit etwas frische Luft hereindringen konnte; aber schneller, als diese,