Vitus' Biene. Ines Mandeau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ines Mandeau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745096958
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meines Vaters dürften sich ebenfalls gefreut haben, verhalf ich doch ihnen, den kaum Volljährigen, zur beliebten Rolle von Onkeln und Tanten vor Ort. Wir lebten zusammen unter einem Dach gemäß der Ahnen Sitte, eine hübsche Mehrgenerationenfamilie, die den Sprösslingen quasi automatisch eine vielschichtige Sozialisation bescherte.

      Geträumt habe ich also. Ich bleibe liegen und halte die Lider geschlossen. Es ist ein Sonntagnachmittag in Monaco und was hätte ich zwangsvergatterte Rentnerin anderes zu tun, als zu träumen und Vergangenem nachzuweinen.

      Vor dem geistigen Auge entfaltet sich die prallgrüne Wiese mit den farbenfrohen Blumentupfen, die meinem kindlich kleinen Blickwinkel endlos bis zum Horizont zu reichen schien. Diese Wiese war der unverrückbare Grund und Boden, auf dem ich gemeinsam mit den jüngeren Geschwistern groß geworden bin, bis die frühe Stunde kam, Abschied zu nehmen vom Elternhaus, zunächst ins Tal und dann in die umliegenden Städte zu ziehen, ein jeder von uns nach seiner Art, auf seinem eigenen Weg. Nur das älteste männliche Kind, der sanfte Bruder mit den breiten Schultern, blieb auf der traditionsgetränkten Almenscholle haften. Er folgte pflichtbewusst seiner Vorbestimmung, den Erbhof weiterzuführen, und ist nun der amtierende Bauer mit tüchtiger Frau und überaus quirligem Nachwuchs.

      Mein Kontakt beschränkt sich auf Besuche zu den unumgänglichen Familienfesten, an denen sich die zahlreiche Verwandtschaft einfindet auf Rauschenstein, unser aller Keimesboden. Die letzte Generalversammlung gab es anlässlich des Goldenen Hochzeitsjubiläums meiner Eltern vor drei Jahren. An jenem Tag begegnete ich auch der Tante Burgi wieder, die mir längst fremd geworden war und die ich bloß sporadisch getroffen hatte. Sie erkannte mich und grüßte mit dem melodischen „Biene Blume Hungga“, als hätte sie buchstäblich darauf gelauert, ihr Gsatzl gewissenhaft hersagen zu dürfen, damit ich es nicht vergessen möge.

      Es war eine fröhliche Zusammenkunft an jenem heiteren, raureifigen Novembertag, an dem meine sehr alten, doch rüstigen Eltern ihr fünfzigstes Ehejahr feierten. Dermaßen viele Gratulanten fanden sich ein, dass der gebuchte Gasthaussaal nicht alle zu fassen vermochte und Behelfstische in einem Vorraum aufgebaut werden mussten, was den Eindruck eines Riesentrubels noch einmal verstärkte. Tante Burgi, Mitte siebzig, drei Täler und vier Gipfel von Rauschenstein entfernt gepflogenheitskonform verheiratet mit dem Erbbauern zu Distelberg, der mitangereist war und eine kolossale Kuhglocke als Geschenk herbeischleppte, die Tante also erkannte mich in der wogenden Gästeschar, steuerte auf mich zu, rief schallend „Grüß Gott“, und ergänzte halb lächelnd, halb singend: „Bie – nee – Blu – mee – Hungg – ahh! Das hast du als kleines Kind gesagt.“

      „Geh“, erwiderte ich freundlich, „ehrlich?“

      „Ja“, bekräftigte die alte, schmächtig gewordene Frau mit dem verwitterten Gesicht. „Ich weiß es ganz genau.“

      Und bevor ich sie um eine Erläuterung hätte bitten können, wandte sie sich der nächsten Nichte zu, dem nächsten Neffen, dann deren Kindern, eine Menge Babys war zugegen, und ich fragte mich, ob sie denen auch eine individuell gewidmete, wunderliche Verszeile vorträllerte? Das werde ich wohl nie erfahren, ebenso wenig die begleitenden Umstände, welche mich als Kind zu den besagten angeblich ersten Worten veranlasst hatten. Aus unerfindlichem Grunde kam ich mit Tante Burgi nie in ein erwachsenes Gespräch. Ich nehme mir vor, bei einem künftigen Wiedersehen auf eine erhellende Ausdeutung der lyrischen Miniatur zu drängen.

      Warum ist mir Tante Burgi im Sinn? Im Traum vorhin trat sie gar nicht auf. Statt ihrer ist die herbe Oma erschienen, die in ihrer Domäne der Familienzucht und Haushaltsordnung ein drakonisch verbissenes Regiment geführt hatte. Die Oma – ich erinnere mich – mochte „Hunnck“. Es ist der Dialektbegriff für Bienenhonig, und dieser war der Altbäuerin kostbarer als sämtlich Gold der Welt. Honig heilt, glaubte sie.

      Da fällt mir auf, dass in Burgis Gsatzl nicht von „Hunnck“ die Rede ist, sondern von „Hungga“, was zwar nur eine geringfügige, aber merkliche Abänderung darstellt. Demnach habe ich, wenn ich Tantes Überlieferung für bare Münze nehme, ein einsilbiges Wort auf zwei Silben ausgedehnt. Wie passierte das denn?

      Ich kannte außer dem Dialekt dieser Gegend keine andere Sprache, und dort hieß es eindeutig „Hunnck“. Dafür sorgte allein schon die pedante Oma, die eine Abweichung von der Tradition einzig unter der exotischen Bedingung geduldet hätte, dass diese vom Dorfpfarrer, einem erzkatholischen, Dogmen geeichten Gottesdiener, erlaubt worden wäre. Wie lauteten die Zehn Gebote an mich, die weibliche, zum Verdruss der Erziehungsverpflichteten tendenziell aufmüpfige Vorhut in der langen Geschwisterreihe?

      Erstens: Du sollst deine Geschwister hüten.

      Zweitens: Du sollst nie streiten.

      Drittens: Du sollst immer vernünftig sein. Tralla-la.

      Viertens: Du sollst … Tralla-li, tralla-la …

      Fünftens: Der Löwenzahn, der Zahn ist da …

      Hör auf! Was denk ich da?

      So ein Kraut- und Rübenhaufen!

      Wahrlich, das reicht!, – das reicht ewigeins.

      Ich wälze mich im Bett, als könnte ich diese Wörterfetzen und Bilderschnipsel, diese Luftschlossgespenster im Oberstübchen, wegquetschen wie lästige Läuse. Zu oft erregte ich Anstoß mit meinen Fantasien, den von der Oma so genannten Spinnereien, etwa über silbern gerüstete edle Ritter, begehrenswerte blondgelockte Prinzessinnen und solcherlei Personal, das im Alltagsjoch des Bergbauernvolkes keine Rolle inne hatte in jener vormaschinellen Ära, als Knechte und Mägde jedem einzelnen Grashalm nachjagen mussten, damit das ohnehin magere Vieh im Stall durch die strengen Winter gefüttert werden konnte. Das Leben ist Arbeit ist Arbeit ist Arbeit, ein unermüdliches Rackern und Schuften; es ist kein faules Zuckerschlecken und definitiv nicht so, wie in den Märchenbüchern der muffigen Pfarrbibliothek geschildert, meiner ersten und prägenden Lektüre.

      Vielleicht hat Tante Burgi ihre Begrüßungsformel mir gegenüber schlicht und einfach erfunden, und ich habe diese Worte in Wahrheit nie und nimmer ausgesprochen?

      Oder ich habe sie tatsächlich von mir gegeben, war jedoch unfähig, den harten ck-Laut in „Hunnck“ zu artikulieren, und habe aus phonetischem Notstand heraus ein „gga“ daraus gebastelt? Nirgendwo knarzt das CK brutaler als in Tirol, für weiche Kleinkindkehlen gewiss eine Qual.

      Von CK zu GGA zu GAGA?

      Gaga! Ich klapse mir auf die Stirn. Gaga, Dada, Schluss und Aus, genug der bekloppten Buchstabenklauberei! Es reicht, Meister Närrin, und wirklich, Doktor Nonsens, was sollen diese müßigen Vermutungen mit ihren hundert denkbaren Variationen bezüglich Episoden, deren Realitätsgehalt in den Sternen steht und die, selbst wenn sie stattgefunden hätten, bereits damals ohne erkennbare Bedeutung waren?

      „Mach dich nicht kirre mit miefigen Mottengeschichten“, befehle ich mir selber, springe auf, gehe ins Bad und trinke Seealpen-Quellwasser aus der Leitung, das ich „Dododler“ getauft habe und das fast so süffig ist wie jenes aus dem rauschensteinschen Hofbrunnen, wenn ich mich korrekt entsinne.

      Dann sehe ich nach dem Marillenzwerg im Kabinett. Sind die vier, fünf Blüten heil und unbeschadet? Im Zwielicht vermag ich ihren Zustand nicht genau zu diagnostizieren. Zumindest halten sie sich am Zweig und sind nicht zu Boden gefallen. Als ich die schleierigen Blättchen betrachte, da schießt mir in den Sinn, Allmächtiger!, haben wir Bienen in der Loggia, wo ich den Baum auszupflanzen gedenke? Ich habe noch nie eine in der fünften Etage bei uns vorbeifliegen gesehen. Ohne Bienen kann es nichts werden mit den fetten Früchten im Juli, wie es auf dem angehängten Schild versprochen wird.

      Gibt es überhaupt Bienen in Monaco?

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