Während ich den verrutschten Riemen des Schulterbeutels zurechtrücke und am zerknautschten Blazerärmel zupfe, fällt mein Blick auf ein buntes Schildchen, das aus dem dichten Blätterwerk herausleuchtet. Nanu, was ist denn da im Busche? Ich beuge mich vor und lese: apricotier nain – Marillenbaum, genauer: ein Zwergmarillenbaum. Tatsächlich, zwischen den Yuccalanzen und Palmenwedel, den gummigen Fici und fleischigen Philodendren, lugen dürre Zweige hervor, die einem kaum kniehohen Stamm entwachsen und von winzigen schwellenden Knospen übersät sind. Ein paar wenige davon sind bereits „aufgegangen“, wie mein Vater, der zahlreiche Obstbäume um seinen Bauernhof gepflanzt hat und auf diesem Feld bewandert ist, zu sagen pflegt, wenn sich die Knospen zu Blüten öffnen.
Ich gehe in die Hocke, um die delikate Entdeckung unter die Lupe zu nehmen. Die weißen, rosa angehauchten Kronblätter schimmern samtig und scheinen so weich und verletzlich, dass ich mich frage, wie sich aus diesem dünnen zarten Nichts des gros fruits entwickeln sollen, fette Früchte, und das schon im Juli, in fünf Monaten? Schwer zu glauben, aber auf dem Plastikkärtchen, das dem Stamm umgehängt ist, steht es versprochen, Ernte im Juli, heißt es da.
Und plötzlich fällt mir unser Marillenbaum ein. Ächzend richte ich mich auf und knicke dabei wieder halb um, als ein vorbeistürmender Einkaufspanzer mit einem quiekenden Knirps im Ausguck mein Hinterteil streift und mein krummes Gestell in bedrohliche Schieflage versetzt. Erschrocken stammle ich eine Entschuldigung für die Karambolage, doch der energische Shopper steuert seinem anvisierten Ziel, einer Gefriertruhe mit Sonderangeboten, ungerührt entgegen, als hätte er die Frauengestalt, die sich aus dem botanischen Dickicht schälte, gar nicht bemerkt. Dem Mann sei vergeben, er ist gestraft genug, samstags einsam seinen Einkaufswagen zu schieben statt mit den Kumpels Fußbälle auf dem Sportplatz zu kicken.
Ich stehe still wie angewurzelt und schaue in die Zimmerpflanzen. Schließlich haben sie mich aus der Bahn geworfen und nicht etwa ein flotter Athlet vom Typ Wochenendpapa. Mein Blick sucht die schlichten kleinen Blütenbecher mitten unter all der prallen Subtropenopulenz, und vor dem inneren Auge entspringt deutlich und lebhaft jener Marillenbaum, den Vitus und ich vor zwei Sommern im Parc Paysager entdeckt haben, dem gärtnerischen Juwel im Herzen von Fontvieille.
Hier, im westlichsten Bezirk Monacos, sind – im Gegensatz zur übrigen Stadt aus kahlem Beton – provenzalisch aufgeputzte Wohnanlagen charakteristisch und verleihen dem Viertel ein eigenes Flair. Die pastellfarbenen Gebäudekörper ähneln Waldorfspielklötzen in Riesenproportionen, die lose und lässig ineinander verschachtelt den annähernd birnenförmigen Park umranden. In einem dieser Klötze wohnen wir, einem Quader mit fünf strahlenförmig angeordneten Seitenflügeln, der auf den poetischen Namen Étoile de Mer getauft worden war, Seestern, und das Gefühl, von einem Seestern behaust zu werden, war seinerzeit das Zünglein an der Waage für den Entschluss, vom geschäftigen Monte Carlo in das ruhigere Fontvieille umzusiedeln. Gegenüber des Hauptaufgangs befindet sich eben jener Parc Paysager, ein Landschaftsgarten von exquisiter Mannigfaltigkeit, ein Kaleidoskop an Farben und Formen so kunterbunt und artenreich, wie ich es in meinem kühnsten kindlichen Märchenkosmos nicht prächtiger hätte ausmalen können. Nie und nirgends, scheint mir, habe ich einen schöneren, von Menschenhand gestalteten Park gesehen als diesen.
Dort entdeckten Vitus und ich im ersten Sommer nach unserem Einzug jenen Marillenbaum, der mir nun so hell und groß im Sinne schwebt. Seine Zweige trugen reife Früchte in Massen und wir fragten uns, ob wir davon welche abbekämen? Wir schlichen uns an, versuchten den dicken Stamm zu schütteln, vergeblich, nicht eine der verlockenden Kugeln wollte sich lösen und uns entgegen kollern. Alle hingen sie zu hoch, um mit gestreckten Armen an sie zu gelangen. „Wir müssen warten, bis sie von selbst herunterpurzeln“, sagte ich, die kundige Bauerstochter.
„Ich könnte sterben für Marillen“, schmachtete Vitus, der Gourmand.
„Besser nicht“, lachte ich und lenkte den potentiellen Märtyrer zurück zum gepflasterten, mit marmornen Randsteinen gesäumten Fußgängerweg, der in Mäandern durch das Gelände führt und die Flaneure abhalten soll, den Rasen zu betreten oder sich, in welcher Absicht auch immer, ins Gebüsch zu schlagen.
Fortan gingen wir in jenem Juli so ziemlich jeden Tag zum Marillenbaum, um nachzusehen, ob von seiner sonnengoldenen Last etwas zu Boden gefallen war. Wir waren nicht die Einzigen, die Gusto hatten auf die Leckerlis: Ständig begegneten uns Spaziergänger, die ebenso beiläufig und rein zufällig wie wir mit gesenkten Köpfen ein paar Runden unter der Laubkrone kreisten. Hin und wieder bückte sich Einer, und hin und wieder waren es Vitus und ich. Die aufgelesenen Früchte schmeckten himmlisch.
Indem ich die grauen Zweiglein inmitten des Blattgewuchers der Supermarkt-Topfpflanzen betrachte, plätschert der Speichel in meinem Mund und die Lippen schmatzen, und mit einem Male bin ich sicher, absolut sicher: Dieser Marillenzwerg ist mein Geburtstagspräsent für Vitus. Flugs packe ich den Kübel, damit mir niemand zuvorkommt und das rare Angebot vor der Nase wegschnappt. Dann sichte ich eine Steige mit Thymianstöcken und rieche sie sogar, da die knackigen Duftbomber, wie ich umgehend feststelle, von einem aufmerksamen Regalbetreuer mit Wasser besprenkelt worden sind. Ich beschließe, kurz vor der Party am Mittwoch einige dieser Kräutertöpfe zu kaufen.
Alles zusammen werde ich in die bauchige Amphore aus Terrakotta einsetzen, die unsere italienischen Vormieter ohne Befüllung in der Loggia des Appartements zurückgelassen hatten, weil es zu umständlich gewesen war, das mächtige Gefäß einem Umzug zu unterziehen. Es ist wirklich groß und dick und wird dem Bäumchen und den Kräutern genügend Raum bieten für eine gesunde Wurzelbildung. Ich muss allerdings einen Haufen Gartenerde auftreiben, diese in die Wohnung schaffen und dort verborgen halten bis Dienstagnacht. Wenn Vitus schläft, werde ich meine Geschenke pflanzen – heimlich und leise, einem Heinzelmännchen gleich.
2. Tour Odéon
„Na, mein Röslein, froh und munter heute“, sagt Vitus, der Kaffee trinkt und beobachtet, wie ich Orangenmarmelade in verschwenderischem Ausmaß auf das Butterbrot häufle.
„Bin ich das nicht von früh bis spät?“, frage ich kokett.
„Das bliebe zu klären“, schmunzelt er.
„Es ist die Marmelade. Du hast sie köstlich gemacht!“
Vitus ist der beste Koch der Welt. Ich kann mir keinen Besseren vorstellen. Sein jüngstes kulinarisches Experiment galt der Verwertung jener wildwachsenden Pomeranzen, die ich letztes Wochenende aus dem Jardin des Douaniers, eines neulich in Cap d’Ail eröffneten Gemeindeparks, mitgebracht hatte. Meines bescheidenen Wissens nach ist es schwierig, saure Orangen in deliziöse Marmelade zu verwandeln, doch Vitus glückte das Pilotprojekt auf Anhieb. Das Resultat schmeckt auf spannende Weise bitter und süß gleichzeitig, ohne zu bitter oder zu süß zu sein.
„Wie hast du bloß diese tolle sämige Konsistenz hingekriegt? Mit Gelierzucker?“
„Wo denkst du hin! Nein, da kommt einzig Rohrzucker in Frage. Rohr, nicht Rübe.“ Leidenschaftlich legt er los: „Den gibt es in der Bioecke im Carrefour. Ich nehme also von dem getrockneten Rohrsaft, nur ein paar Löffel voll, sonst wird’s zu zuckerig, sodann von den Orangen alles, was orange ist“, – und weiter redet er über einen Trick, wie Kerne auszulösen und weiße Häute ohne Substanzverlust abzutrennen seien, und endet mit dem Tipp: „Händisch rühren, bis der Kochlöffel schwitzt und das Kasserol singt. Pausenlos rühren – das macht’s!“
Diese Ausdauer am Herd möchte ich auch haben, aber das wird ein frommer Wunsch bleiben. „Köstlich“, sage ich noch einmal. „Kann in Serie gehen.“
„Okay, wenn du die Zutat pflückst und mich belieferst.“ Daran soll es nicht scheitern. Ich liebe es, auf den Ausflügen in die Natur die diversesten, in unserer Küche verwendbaren Gewächse zu sammeln und heimzubringen. Seit Weihnachten reifen an den unzähligen Zitrusbäumen in und um Monaco die Früchte, die leider meist höher hängen als ich mit den Händen hinkomme. Ich kenne nicht viele Bäume, deren untere Äste ich ohne Hilfsmittel, eine Leiter etwa, abklauben kann.