Der Junge näherte sich ganz langsam dem Ufer, aber da drang Gesang bis zu ihm hinaus. Jetzt begann er auf das Land zu zu laufen. Er mußte wirklich mit dabei sein!
Ganz am Ende der Rättviker Bucht geht eine ungeheuer lange Dampferbrücke in das Wasser hinaus, und an der äußersten Spitze dieser Brücke stand eine Schar Sänger und sang in der späten Nachtstunde über den See hinaus. Es war, als glaubten sie, daß der Frühling so wie die wilden Gänse draußen auf dem Eis des Siljans schlafe, und als wollten sie ihn wecken.
Die Sänger begannen mit: »Ich weiß ein Land im hohen Norden«, und dann folgte: »Gar schön ist der Lenz, wenn die Erde sich freut!« darauf: »Nach Tuna geht der Marsch«, »Mannheit, Mut und freie Männer«, und schließlich: »In Dalarna wohnten, in Dalarna wohnt«. Es waren alles Lieder, die von Dalarna handelten. Auf der Dampferbrücke brannte kein Feuer, und die Sänger konnten sich nicht weit umsehen. Aber mit den Tönen stieg das Bild ihres Landes vor ihnen und vor allen, die sie hörten, klarer und schöner auf, als wenn es heller, lichter Tag gewesen wäre. Es war gleichsam, als wollten sie den Frühling rühren: »Sieh doch nur, welch schönes Land da liegt und auf dich wartet! Willst du uns denn nicht zu Hilfe kommen? Willst du den Winter wirklich noch lange seinen Druck auf diese schönen Gegenden legen lassen?«
So lange der Gesang währte, stand Niels Holgersen da und lauschte, als er aber verstummte, eilte er an Land. Ganz am Ende der Bucht war das Eis aufgetaut, aber da waren viele Sandbänke, so daß er doch glücklich nach einem Feuer hinüber gelangte, das am Ufer selbst lag. Mit großer Vorsicht schlich er so nahe heran, daß er die Menschen sehen konnte, die um das Feuer saßen und standen; er konnte sogar hören, was sie sagten. Und wieder mußte er sich verwundern, was es wohl sein könne, das er sah, und er fragte sich, ob es wohl etwas anderes sei als eine Vision. Nie zuvor hatte er Menschen so gekleidet gesehen. Die Frauen hatten schwarze spitze Mützen auf dem Kopf, sie trugen kleine, weiße Pelzjacken, rosa Tücher um den Hals, grünseidene Taillen und schwarze Röcke, deren Vorderbahn mit weißen, roten, grünen und schwarzen Streifen quer durchzogen war. Die Männer hatten runde, niedrige Hüte, blaue Röcke mit rotumrandeten Säumen, gelbe Lederhosen, die bis an die Knie reichten und mittels roter, mit Quasten verzierter Strumpfbänder befestigt waren. Er wußte nicht, ob die Kleidung allein schuld daran war, aber er fand, die Leute hier sahen ganz anders aus als anderswo, viel vornehmer und stattlicher. Er hörte, daß sie miteinander sprachen, aber lange konnte er nichts verstehen. Er mußte an die feinen Trachten denken, die seine Mutter in ihrer Truhe hatte, und die niemand seit undenklichen Zeiten mehr hatte tragen wollen, und ihm kam der Gedanke, ob dies nicht etwa Leute aus der Vergangenheit seien, die in den letzten hundert Jahren nicht lebend auf der Erde gewandelt waren. Aber das war nur so ein Gedanke, der ihm durch den Kopf flog und gleich wieder weghuschte, denn er sah sehr wohl, daß es lebende Menschen waren, die er hier vor sich hatte. Die Sache war die, daß die Bevölkerung um den Siljansee in Sprache und Kleidung und im Wesen mehr von entschwundenen Zeiten bewahrt haben, als die Bewohner anderer Gegenden. Daher war er auf solche Gedanken gekommen.
Der Junge bemerkte sofort, daß die Leute, die um das Feuer saßen, von alten Zeiten redeten. Sie erzählten, wie es ihnen in ihren jungen Jahren ergangen war, als sie lange Wege nach anderen Landschaften wandern mußten, um denen daheim durch ihre Arbeit Brot zu verschaffen. Er hörte mehrere Erzählungen, aber am besten entsann er sich später dessen, was eine alte Frau erlebt hatte.
Moor-Kirstens Geschichte.
»Vater und Mutter hatten einen kleinen Hof in Ostbürka, aber wir waren viele Geschwister, und die Zeiten waren schwer, so sah ich mich denn mit sechzehn Jahren genötigt, von Hause fortzugehen. Wir zogen von dannen, zwanzig junge Leute aus Rättvik. Es war im Jahre 1845, am 16. April, als ich zum ersten Mal nach Stockholm ging. In meinem Beutel hatte ich einige Brote, ein Kalbsvorderblatt und ein wenig Käse. Die ganze Reisekasse betrug vierundzwanzig Schilling. Die anderen Vorräte, die ich mitbekommen, hatte ich in den ledernen Sack gelegt, den ich mit einem Arbeitsanzug auf einem Bauernwagen vorausgeschickt hatte.
So gingen wir denn alle zwanzig den Weg nach Falun. Wir pflegten fünf, sechs Meilen am Tage zurückzulegen, und wir erreichten Stockholm nach sieben Tagen. Das war etwas anderes, als sich in den Zug zu setzen, wie es die Mädchen heutzutage tun, und in acht, neun Stunden so überaus bequem dahinzufahren.
Als wir in Kopenhagen einzogen, riefen die Leute einander zu: ›Seht, da kommt das Dal-Regiment.‹ Es klang auch so, als käme ein ganzes Regiment dahermarschiert, wenn wir auf unseren Schuhen mit den hohen Absätzen, in die der Schuster nicht weniger als fünfzehn große Nägel hineingeschlagen hatte, die Straße entlang gingen. Es geschah nicht selten, daß mehrere von uns strauchelten und fielen, weil wir nicht daran gewöhnt waren, auf den spitzen Pflastersteinen zu gehen.
Wir zogen in das Dal-Wirtshaus ›das weiße Roß‹, das auf Södermalen in der Stora Badstugata lag. Die Leute aus Mora wohnten in derselben Straße in einem Wirtshaus, das ›Store Krone‹ hieß. Nun handelte es sich ja darum, schleunigst Arbeit zu bekommen, denn von den vierundzwanzig Schillingen, die ich von Hause mitgenommen hatte, waren nicht mehr als achtzehn übrig. Eins von den anderen Mädchen sagte, ich solle zu einem Rittmeister gehen, der bei Hornstutt wohne, und nach Arbeit fragen. Dort blieb ich vier Tage; ich sollte in seinem Garten graben und pflanzen. Vierundzwanzig Schilling erhielt ich als Tagelohn; für Essen mußte ich selbst sorgen. Ich bekam nicht viel zu essen, aber die kleinen Mädchen meiner Herrschaft, die sahen, wie ärmlich es mit mir bestellt war, liefen in die Küche und baten um Essen für mich, so daß ich mich doch satt essen konnte.
Dann kam ich zu einer Frau in der Norrlandsgata. Dort bekam ich eine elende Kammer, und die Mäuse nahmen meine Mütze und mein Halstuch weg und nagten ein Loch in meinen ledernen Beutel, so daß ich ihn mit einem alten Stiefelschaft flicken mußte, den ich mir verschaffte. Da hatte ich nicht mehr als vierzehn Tage Arbeit, und dann mußte ich mit zwei Talern in der Tasche wieder nach Hause gehen.
Ich ging über Leksand heim und lag ein paar Tage in einem Dorf, das Ronnäs hieß. Ich entsinne mich noch, daß die Leute dort Suppe aus Hafermehl kochten, das sie mit Spreu und Kleie zusammen mahlten. Sie hatten nichts weiter, und das mußte in den Tagen der Hungersnot heruntergleiten.
Ja, das Jahr war gerade nicht zum Prahlen, aber die nächsten Jahre mußte ich noch mehr Widerwärtigkeiten erdulden. Ich war ja gezwungen, wieder von Hause zu gehen, denn sonst hätten die daheim nichts zu leben gehabt. Ich ging zusammen mit zwei Mädchen nach Hudiksvall, und es waren fünfunddreißig Meilen bis dahin. Den ganzen Weg mußten wir mit dem Ledersack auf dem Rücken gehen, denn diesmal hatten wir keinen Wagen, mit dem wir ihn hätten schicken können. Wir hatten gehofft, Gartenarbeit bekommen zu können, aber als wir dahin kamen, lag überall hoher Schnee, so daß keine derartige Arbeit zu finden war. Dann ging ich aufs Land in die Bauerhöfe hinein und bat so eindringlich, man möge mir etwas zu tun geben. Ach, herrjemine, wie hungrig und müde war ich schließlich, bis ich an einen Hof kam, wo ich bleiben und für acht Schilling den Tag Wolle kratzen durfte! Aber späterhin im Frühling bekam ich Arbeit in den Gärten in der Stadt, und da blieb ich bis zum ersten Juli. Dann aber befiel mich ein solches Heimweh, daß ich mich auf den Weg nach Rättvik machte. Ich war ja erst siebzehn Jahre alt, müßt ihr bedenken. Meine Schuhe hatte ich durchgelaufen, so daß ich die fünfunddreißig Meilen auf bloßen Füßen gehen mußte. Und doch war ich von Herzen froh, denn nun hatte ich fünfzehn Reichstaler zusammengespart, und für meine kleinen Geschwister brachte ich einige harte Weizenzwiebacke und eine Tüte mit geschlagenem Zucker mit, den ich aufgespart hatte. Denn wenn mir jemand Kaffee mit zwei Stück Zucker dazu gegeben, hatte ich immer das eine aufgehoben.
Hier sitzet nun ihr, Mädchen, und wißt nicht, wie sehr ihr Gott zu danken habt, daß er uns bessere Zeiten gegeben. Denn damals war es nicht anders, als daß das eine Hungerjahr das andere ablöste. Alle jungen