›Ich kann nicht begreifen, was die Möwe mit ihren Inseln und Landzungen meint,‹ sagte sie. ›Ich habe nichts weiter gesehen als große Felder und liebliche, blühende Wiesen. Nie im Leben habe ich ein Land gesehen, daß von so vielen, großen Flüssen durchschnitten ist. Es war eine Wonne, sie in all ihrer breiten Gewalt durch die flachen Ebenen so ruhig und gleichmäßig strömen zu sehen. An den Ufern der Flüsse liegen die Höfe so dicht wie die Häuser in einer Straße, und an den Mündungen der Elfe sind Städte, sonst aber ist das Land sehr spärlich bebaut. Wenn die Vögel der Ebene meinem Rat folgen wollen, so ziehen sie sogleich gen Norden.‹
Nach der Lerche kam der Auerhahn, der über den mittleren Teil des Landes hinweggeflogen war.
›Ich begreife weder, was die Lerche mit ihren Wiesen, noch was die Fischmöwe mit ihren Schären meint,‹ sagte er. ›Ich habe auf der ganzen Reise nichts anderes gesehen als Fichtenwälder und Tannenwälder. Eine Menge großer Moore, und viele brausende und reißende Elfe gibt es dort auch, aber alles, was nicht Moor oder Elf ist, das ist dunkler Tannenwald. Weder Felder noch menschliche Wohnungen habe ich gesehen. Wenn die Waldvögel meinem Rat folgen wollen, so ziehen sie sogleich nordwärts.‹
Nach dem Auerhahn berichtete die Lumme, die den Landstrich jenseits der Waldgegend untersucht hatte.
›Ich begreife nicht, was der Auerhahn mit seinen Wäldern meint, und ich begreife auch nicht, wo die Lerche und die Fischmöwe ihre Augen gehabt haben. Es ist fast kein Land dort oben; nichts als große Seen. Dunkelblaue Bergseen, von schönen Ufern umgeben, und hin und wieder wird der See zu einem brausenden Wasserfall. Ich habe an einigen dieser Seen Kirchen gesehen und große Dörfer, andre aber lagen einsam und friedlich da. Wenn die Süßwasservögel meinen Rat befolgen wollen, ziehen sie sogleich gen Norden.‹
Schließlich sprach der Schneesperling, der an der Landesgrenze entlang geflogen war.
›Ich begreife nicht, was die Lumme mit ihren Seen meint, und es ist mir auch unmöglich zu begreifen, was für ein Land der Auerhahn und die Lerche und die Fischmöwe gesehen haben,‹ sagte er.
›Ich fand ein großes Gebirgsland da oben im Norden. Ich habe keine Ebene angetroffen und auch keine großen Wälder, dahingegen einen Berggipfel nach dem andern, eine Felsenfläche nach der andern. Ich habe Eisfelder gesehen und Schnee und Gebirgsbäche mit Wasser so weiß wie Milch. Keine Felder, keine Wiesen erblickte mein Auge, nur große, mit Weiden, Zwergbirken und Renntiermoos bedeckte Flächen. Keine Haustiere, keine Bauern, keine Höfe traf ich hier an, dahingegen Lappen, Renntiere und Lappenzelte. Wenn die Gebirgsvögel meinem Rate folgen wollen, so ziehen sie unverzüglich gen Norden!‹
Nachdem die fünf Kundschafter also gesprochen hatten, schalten sie sich gegenseitig Lügen und waren schon im Begriff, einander in die Federn zu fahren und zu kämpfen, um die Wahrheit ihrer Worte zu beweisen, Aber die alten, klugen Vögel, die sie ausgesandt, hatten voll Freude gehört, was sie erzählten. Sie beruhigten die Kampflustigen.
›Streitet euch nicht,‹ sagten sie. ›Soviel haben wir aus euren Worten erfahren, daß da oben im Norden großes Gebirgsland und großes Seenland und großes Waldland und große Ebenen und große Schären sind. Das ist mehr als wir erwartet hatten. Nicht viele große Königreiche können sich rühmen, so viel in ihren Grenzen zu besitzen.«
Das wandernde Land.
Sonnabend, 18. Juni.
Jetzt, wo Niels Holgersen selbst über das Land hinflog, von dem der alte Lappe erzählt hatte, mußte er an diese Geschichte denken. Der Adler hatte ihm gesagt, daß der flache Küstenstrich, der unter ihnen ausgebreitet lag, Västerbotten sei, und daß die blauenden Bergkuppen weit hinten im Westen in Lappland lägen.
Schon allein das Bewußtsein, nach all der Angst, die er während des Waldbrandes ausgestanden hatte, wieder wohlbehalten auf Gorgos Rücken zu sitzen, war ein Glück, aber die Reise selbst war auch wunderbar schön. Am Morgen war Nordwind gewesen, aber jetzt hatte sich der Wind gedreht, so daß sie mit ihm flogen, und keinen Zug spürten. Der Flug war so gleichmäßig, daß es zuweilen schien, als stünden sie ganz still in der Luft. Der Junge hatte ein Gefühl, als schlage der Adler fortwährend mit den Flügeln, ohne vom Fleck zu kommen. Und doch war unter ihnen alles in Bewegung. Die ganze Erde, und alles darauf glitt langsam südwärts. Die Wälder, die Häuser, die Wiesen, die Zäune, die Elfe, die Städte, die Schäreninseln, die Sägewerke, alles war auf der Wanderschaft. Er überlegte, wohin das wohl alles wollte. War es müde geworden, so hoch oben im Norden zu wohnen, und wollte es südwärts ziehen?
Zwischen alledem, was sich bewegte und gen Süden zog, sah er nur eins, was still stand, und das war ein Eisenbahnzug. Er stand gerade unter ihnen, und es ging dem Zuge genau so wie Gorgo, er konnte nicht vom Fleck kommen. Die Lokomotive spie Rauch und Funken aus, bis oben hinauf zu dem Jungen konnte man hören, wie die Räder auf den Schienen rasselten, aber der Zug rührte sich nicht. Die Wälder glitten an ihm vorbei, die Bahnwärterhäuschen glitten daran vorüber, Schlagbäume und Telegraphenstangen glitten vorüber, aber der Zug stand still. Ein breiter Elf mit einer langen Brücke kam ihm entgegen, aber der Elf und die Brücke glitten ohne die geringste Schwierigkeit unter dem Zuge durch. Schließlich kam ein Bahnhof dahergelaufen. Der Stationsvorsteher stand mit seiner roten Fahne in der Hand auf dem Bahnsteig und glitt ganz langsam an den Zug heran. Als er die kleine Fahne schwenkte, entsandte die Lokomotive einige Rauchwirbel in die Luft, die noch schwärzer waren als vorher, und pfiff jämmerlich, als wolle sie sich darüber beklagen, daß sie nicht vorwärtskommen könne. Aber im selben Augenblick fing sie an zu gehen. Ebenso wie der Bahnhof und all das andere glitt sie südwärts dahin. Der Junge sah, wie die Wagentüren geöffnet wurden und die Reisenden ausstiegen, während sich sowohl der Zug, als auch die Reisenden in südlicher Richtung weiter bewegten. Da aber wandte Niels Holgersen seine Augen von der Erde ab und versuchte geradeaus zu sehen. Er hatte ein Gefühl, als werde er ganz schwindlig, wenn er diesen wunderlichen Eisenbahnzug ansah.
Als jedoch der Junge eine Weile dagesessen und eine kleine weiße Wolke angestarrt hatte, wurde er auch davon müde und sah wieder hinunter. Noch immer war es, als wenn er und der Adler sich nicht bewegten, während alles andere südwärts sauste. Wie er da so auf dem Rücken des Adlers saß und zu seiner Unterhaltung nichts hatte als seine eigenen Gedanken, schien es ihm spaßhaft zu denken, wie es sein würde, wenn ganz Västerbotten in Bewegung geriet und gen Süden zog. Wenn nun das Feld, das gerade in diesem Augenblick unter ihm dahinglitt, und das wohl eben erst bestellt war, denn er konnte nicht einen einzigen grünen Halm darauf erblicken, – nach der Südebene in Schonen hinuntersauste, wo der Roggen um diese Zeit schon Ähren angesetzt hatte!
Die Tannenwälder sahen hier oben ganz anders aus. Die Bäume standen weit auseinander, die Zweige waren kurz, die Nadeln waren fast schwarz, viele Bäume waren an den Wipfeln verdorrt und sahen krank aus. Die Erde unter ihnen war mit alten Stämmen bedeckt, die wegzuschaffen sich niemand die Mühe gemacht hatte. Wenn nun ein solcher Wald so weit käme, daß er den Kolmården sehen konnte! Da würde er sich gewiß sehr ärmlich vorkommen.
Und der Garten, den er jetzt unter sich sah! Es waren schöne Bäume darin, aber weder Obstbäume noch edle Linden und Kastanien, nur Ebereschen und Birken. Es waren schöne Büsche darin, aber weder Goldregen noch Flieder, nur Faulbäume und Hollunder. Gemüsebeete waren auch da, aber sie waren noch nicht umgegraben und bepflanzt. Wenn nun so ein Küchengarten ganz nach einem Schloßgarten in Sörmland angefahren käme! Da würde er sicher von sich selbst denken, daß er nichts weiter sei als eine Einöde.
Oder die Wiese dort, die mit so vielen kleinen, grauen Scheunen bedeckt war, daß man glauben sollte, die halbe Erde sei zu Bauplätzen geworden! Wenn die nach der Ostgötaebene hinunter triebe, da würden alle Bäume dort unten wahrlich große Augen machen.
Aber wenn das große Moos, das nun unter ihm lag, ganz mit Fichten bewachsen wäre, die nicht steif und kerzengerade daständen wie in gewöhnlichen Wäldern, sondern buschige Zweige und üppige Kronen hätten und sich in anmutigen Gruppen auf dem schönsten Teppich aus weißem Renntiermoos aufgestellt hätten, wenn dies Moos dann den Weg nach dem Ovedkloster-Park hinab