Heiter bis mysteriös. Brigitte Regitz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Brigitte Regitz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742755452
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war und sich von dir auf der Nase herumtanzen ließ. So habe ich mich entschieden, dich in einen Kinderhort mit Internat zu schicken. Daran erinnerst du dich doch noch, oder?“

      „Ja“, gab Ernst zu. „Plötzlich musste ich da übernachten und auch essen. Igitt, an diese scheußliche Brotsuppe darf ich gar nicht denken und am Wochenende wurde ich noch nicht einmal nach Hause geholt, wie die meisten anderen Kinder. Daran erinnere ich mich. Ich war sehr unglücklich, Vater.“

      „Ich weiß, aber was hätte ich anderes tun können?“

      Otto Schneider seufzte und fuhr dann fort: „Deine schulischen Leistungen verbesserten sich auf jeden Fall drastisch und so kam ich eines Tages zum Hort, um mich bei den Mitarbeiterinnen zu bedanken. Und stell’ dir vor, die sagten mir, das sei alles das Verdienst der kleinen Bärbel. Du und die kleine Bärbel gingen in dieselbe Klasse. Bärbel kontrollierte, ob du tatsächlich alle Schulaufgaben gemacht hattest. Außerdem fand sie offenbar, dass du nicht besonders gut lesen konntest und hat mit dir das Lesen geübt. Na, so war es kein Wunder, dass du dich verbessert hast. Als ich dich vom Hort abmeldete, weil ich Wilma kennen gelernt hatte und wir zusammen als Familie leben wollten, habe ich Bärbel und noch ein paar Kinder zu einer Abschiedsfeier eingeladen, und da habe ich gehört, dass Bärbel dich nur mit Schneider ansprach. Kannst du dich daran gar nicht mehr erinnern?“

      Ernst Schneider schüttelte den Kopf: „Nein, aber während du erzählt hast, sind mir ein paar Erinnerungen gekommen. In der Schule saß ich neben Bärbel. Sie sagte immer - ruhig, zuhören - wenn ich schwätzen wollte. Ja, und dann erinnere ich mich, wie auf dem Weg von der Schule zum Hort einige Jungen laut gesungen haben. Meistens Verunglimpfungen von Liedern. Da durfte ich nicht mitsingen. Bärbel sagte dann zu mir - so was singt man nicht.“

      „Dass du das mit dem Nachnamen bei deinem Sohn übernommen hast, finde ich trotzdem ein wenig merkwürdig“, sagte Elke.

      „Ja, finde ich auch“, stimmte ihre Schwiegermutter Wilma zu, lachte dann aber und meinte: „Muss es denn immer für alles Erklärungen geben? Komm Paul, vergiss die Scherben oder glaub’ daran, dass sie Glück bringen und jetzt weißt du, dass dein Vater dich nicht beleidigen will, wenn er dich Schneider nennt. Er heißt ja selber so!“

      Über diese Logik konnte sogar Paul herzlich lachen.

      „Es wird Zeit“, ließ sich Otto Schneider hören und damit begann der Aufbruch der älteren Herrschaften. Elke räumte den Tisch ab und Paul verkrümelte sich in sein Zimmer. Der Großvater hatte ihm ein neues Spiel mitgebracht. Das wollte er jetzt gleich ausprobieren.

      Tags darauf saß Ernst Schneider wieder einmal in einer dieser langweiligen Montags-Besprechungen, bei denen Tätigkeitsberichte abgegeben und Termine besprochen wurden. Seine Gedanken schweiften ab. Vor seinem inneren Auge sah er ein Gartengelände, das von roten Aschewegen durchzogen war. Er sah Beete mit gelben und dunkelroten Primeln und eine Wiese, die von Kastanienbäumen gesäumt war. Auf dem Ast eines kleineren Baums saß ein Junge und ein Zweiter versuchte gerade, auch hinaufzuklettern. Er selbst saß auf einer Wippe. Er allein. Nun fiel es ihm ein. Es war sein erster Tag im Kinderhort. Da stand auf einmal ein Mädchen neben ihm. Bärbel.

      Wie durch einen Schleier hörte er: „Bei drei Ausschreibungen haben wir den Zuschlag bekommen.“

      Im selben Augenblick spürte er die Ohrfeige, die ihm Bärbel gab. Ja, genau: „Bei drei bist du runter!“ hatte sie damals gesagt, aber, wie bei seinem Kindermädchen, dachte Ernst nicht daran, der Aufforderung zu folgen. Da zählte Bärbel bis drei und knallte ihm eine.

      Ernst Schneider wurde heiß. Jetzt fiel ihm noch etwas ein. Als sein Schwimmtrainer gesagt hatte: „Bei drei springst du!“ war er regelrecht erstarrt. Er hatte nicht springen können und so kletterte er schließlich wieder vom Zehnmeter-Brett hinunter. Das war ihm jetzt noch peinlich. Er lockerte seine Krawatte. Die schien ihm plötzlich den Hals einzuschnüren.

      „Geht es dir nicht gut, Ernst?“ fragte der Kollege neben ihm.

      „Doch, doch, Harald, mach dir keine Sorgen“, erwiderte Ernst. Dann hing er wieder seinen Gedanken nach. Da fiel ihm noch eine andere Situation ein. Damals hatte er fluchtartig die Sparkasse verlassen, als die Mitarbeiterin gesagt hatte: „Die Zinsen liegen bei drei Prozent.“ Dabei lag die Sparkasse damit besser als alle anderen Banken.

      Eine freudige Aufgeregtheit erfasste Ernst. Jetzt wusste er endlich, warum er manchmal so unerklärlich reagiert hatte. Er entspannte sich. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Auf keinen Fall würde er seinen Sohn noch einmal beim Nachnamen rufen! Und bei drei würde er in Zukunft nicht mehr wie hypnotisiert reagieren.

      „Schneider!“ riss ihn eine Stimme aus seinen Betrachtungen.

      „Ja“, antwortete er erschrocken.

      „Auf Herr Schneider reagieren Sie ja wohl nicht“, war das Nächste, was er hörte.

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