Norbert Ganterbein griff zum Telefonhörer und beauftragte seinen Detektiv, nach Brasilien zu fliegen und Alfred Runkel zu suchen. Die Tage verstrichen ohne Ergebnis. Der Notar wurde nervös. Sollte der Neffe nicht gefunden werden, würde das große Vermögen an das Finanzamt fallen. Bei dieser Vorstellung wurde ihm übel.
Nach mehr als drei Wochen meldete sich der Detektiv mit der Nachricht, den Gesuchten gefunden zu haben. Ganterbein machte sich Notizen, gab seinem Mitarbeiter Anweisung zurückzukommen, beauftragte ein Reisebüro mit der Buchung eines Fluges und eines Hotelzimmers für sich in São Paulo und war zwei Tage später dorthin unterwegs.
Diese riesige Stadt, das Kraftzentrum Brasiliens, verursachte ihm Beklemmungen. Wolkenkratzer, wohin das Auge schaute. Das Taxi brauchte fast drei Stunden vom Flughafen, bis es vor dem Hotel vorfuhr. Der Notar zahlte, ließ sich eine Quittung geben, stieg aus, trat durch die Drehtür in ein mit rotem Samt ausgestattetes Foyer. Die Sesselgruppen wirkten einladend und die weichen Teppiche dämpften angenehm die Geräuschkulisse. Der Portier sprach fließend Englisch und konnte sogar ein paar Brocken Deutsch. Ganterbein war zufrieden.
Am nächsten Morgen verließ der Notar nach dem Frühstück das Hotel. Er winkte sich ein Taxi heran und gab dem Fahrer einen Zettel mit der Anschrift, unter der der gesuchte Neffe wohnen sollte. Dann fuhren sie fast zwei Stunden, bis der Wagen vor einem gepflegten achtstöckigen Wohnhaus hielt. Ganterbein gab dem Taxifahrer zu verstehen, dass er warten sollte, stieg aus, ging auf das Gebäude zu, drückte gegen die Eingangstür. Sie öffnete sich, sodass er eintreten konnte, ohne klingeln zu müssen. Sein Blick fiel auf die Briefkästen. Er suchte den Namen Alfredo Ruebo, wie sich Runkels Neffe hier nannte. Als er ihn sah, holte er einen braunen Briefumschlag aus seinem Jackett und warf ihn ein. Dann wandte er sich um und ging zurück zu seinem Taxi.
In dem Kuvert befand sich ein Schreiben, mit dem sich der Notar vorstellte und mitteilte, wo er in São Paulo zu erreichen war. Hinzugefügt hatte er Kopien seines Personalausweises und des Vermächtnisses von Karl Runkel. Zurück im Hotel wartete er dann mit Spannung auf einen Anruf. Endlich! Am frühen Nachmittag klingelte das Telefon in seinem Zimmer. Der Erbe meldete sich mit seinem richtigen Namen und schlug ein Treffen in der Nähe seiner Wohnung vor. Dort gab es einen kleinen Park. Ganterbein sollte sich auf eine der Bänke setzen und als Erkennungszeichen eine Postkarte neben sich legen. Die beiden Männer verabredeten sich für den nächsten Tag gegen elf Uhr.
Der Notar nahm den Taxifahrer vom Vortag, als er den wieder vor dem Hotel stehen sah. An dem Park stieg er aus, zahlte und bat den Chauffeur, zwei Stunden später zurückzukommen. Mit einem breiten „Okay“ brauste der Mann davon.
Kaum saß Ganterbein auf einer der Parkbänke und hatte die Postkarte neben sich gelegt, erschien ein dunkelhaariger, braun gebrannter, schlanker Mann, setzte sich zu ihm und fragte: „Sind Sie der Herr aus Deutschland?“
„Ja“, rief der Notar erfreut und fuhr fort: „Und Sie sind Alfred Runkel?“
„Genau.“
„Gut. Dann unterbreite ich Ihnen jetzt meinen Vorschlag zur Abwicklung der Erbschaft, die sich insgesamt auf drei Millionen Euro beläuft, angelegt in Festgeldern, Aktien und Sparzertifikaten. Darüber hinaus gibt es noch vier Immobilien sowie das übliche Mobiliar samt Hausrat und zwei Fahrzeuge ...“
Ganterbein senkte seine Stimme, denn er kam nun zum wichtigsten Teil seiner Mitteilung. Die bestand darin, dass er fünfzig Prozent der Erbschaft beanspruchte. Dafür würde er sicherstellen, dass niemand vom Aufenthaltsort Alfred Runkels erfahren würde.
Der Erbe ließ sich bei dieser Erklärung keine Gefühlsregung anmerken. Er nickte und sagte dann: „Ich brauche Bedenkzeit. Die ganze Sache ist überhaupt sehr überraschend für mich.“
„Selbstverständlich“, rief der Notar eilfertig. „Ich wollte sowieso ein paar Ausflüge machen, wenn ich schon einmal hier bin. Morgen reise ich zu den Wasserfällen des Iguacu und werde erst in fünf Tagen wieder zurück sein.“
„Gut“, nickte der Neffe des Erblassers. „Dann treffen wir uns in einer Woche um elf Uhr in meiner Wohnung.“
„Nein, mir ist lieber, wenn wir uns in meinem Hotel treffen. Dort gibt es einen sehr angenehmen kleinen Konferenzraum. Außerdem brauche ich dann nicht wieder die lange Fahrt durch die Stadt zu machen, sondern Sie“, entgegnete der Notar augenzwinkernd, worauf der Erbe stumm nickte, sich erhob, Ganterbein die Hand reichte und förmlich sagte: „Auf Wiedersehen. Ich wünsche Ihnen eine vergnügliche Reise.“
Bis zur Rückkehr seines Taxis ging der Notar in dem kleinen Park auf und ab. Am liebsten hätte er Luftsprünge gemacht, so erleichtert war er. Nun war alles bestens arrangiert. Den gefährlichen Vorschlag, in die Wohnung des Erben zu kommen, hatte er locker und unauffällig abgewehrt. Nach dem Ausflug würde er das Hotel nicht mehr verlassen und dann vorzeitig abreisen.
Alfred Runkel kehrte in seine Wohnung zurück. Jetzt war er noch aufgewühlter als nach dem Erhalt des braunen Umschlags. Er musste weg, wieder flüchten, eine neue Identität annehmen. Er würde zunächst zu seiner langjährigen Vertrauten, Judith, in die Berge fahren und dann weitersehen. Er warf ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer auf dem Bett. Sollte er auch die schöne Katze aus Muranoglas mitnehmen? Sie erinnerte ihn an seinen Kater, den er bei der Flucht aus Deutschland zurückgelassen hatte. Er ging zur Abstellkammer, nahm ein paar Zeitungen von einem Packen, der dort gestapelt war, kehrte zurück ins Schlafzimmer, drehte die Skulptur ein, legte sie zwischen die zusammengefalteten Kleidungsstücke, wusch sich die Druckerschwärze von den Händen, ließ sich dann aufs Bett neben den Koffer fallen und schlief vom Stress erschöpft ein.
Im Traum erlebte er seine Flucht aus Deutschland noch einmal, dann die Begegnung mit dem Notar. Wut über diesen Mann ergriff ihn, sodass er erwachte.
Er ging ins Wohnzimmer, holte zwei Bücher und packte sie in den Koffer. In dem Augenblick elektrisierte ihn ein Wort auf dem Zeitungspapier, mit dem er die Katze eingewickelt hatte. Er faltete es vorsichtig auseinander. Es war ein Teil der Rheinischen Post, die ihm ein Freund ab und zu kaufte, um ihm eine Freude zu bereiten. Alfred hatte kein Interesse an dieser Zeitung und überschlug daher immer nur die Schlagzeilen der ersten Seite. Jetzt aber las er im Lokalteil: „Banküberfall nach fünfzehn Jahren aufgeklärt. Täter geständig“.
Als er den Artikel zu Ende gelesen hatte, umfing ein Lächeln seine Lippen. Er begann, den Koffer wieder auszupacken.
Schneider!
Kaffee und Kuchen waren verputzt. Elke Schneider strahlte ihren Mann Ernst an. Der Nachmittag war gelungen. Ihre Schwiegermutter Wilma lächelte zufrieden. Schwiegervater Otto Schneider lehnte sich auf seinem gepolsterten Stuhl zurück und klappte sein Zigarren-Etui auf. Wie immer blieb die Familie um den noch nicht abgeräumten Tisch herum sitzen. Paul, der achtjährige Sohn von Elke und Ernst, begann sich zu langweilen, malte mit dem Fingernagel auf dem Tischtuch. Plötzlich machte er eine fahrige Handbewegung und sein Kakao-Becher fiel auf das Parkett, wo er mit lautem Geschepper in tausend Stücke zerbrach.
„Schneider!“ rief sein Vater wütend.
„Sag nicht immer Schneider zu Paul!“ rief nun Elke mit hoch-rotem Kopf. Dann wandte sie sich an ihren Schwiegervater und sagte: „Immer wieder nennt er Paul beim Nachnamen. Das ist doch nicht normal. Kannst du ihm das nicht verbieten? Auf mich hört er ja nicht.“
Otto Schneider zupfte sich am Kinn, als hätte er einen Bart. Schließlich sagte er: „Weißt du, Elke, als Ernst so alt wie Paul war, habe ich ihn hin und wieder auch beim Nachnamen genannt. Ich fand das lustig. Ich hab’s nämlich nachgemacht.“
„Das verstehe ich nicht“, wunderte sich Elke, und Ernst, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte, sagte: „Ich auch nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern. Wem hast du es denn nachgemacht?“
„Na ja, da muss ich ein bisschen ausholen: Deine Mutter ist ja bei deiner Geburt gestorben und ich war beruflich viel unterwegs. Also habe ich ein Hausmädchen