Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit. Heide Fritsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heide Fritsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737525084
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Räume an Flüchtlinge und Vertriebene abgeben mussten. Pro Kopf durfte jeder nur ein Zimmer für sich beanspruchen.

      Mein Großvater war über diese Zwangsmaßnahmen der provisorischen Verwaltungsbehörden empört. Das war ein Eingriff in seine Privatrechte. Weil meine Schwester und ich mit zum Haushalt gerechnet wurden, konnte er fünf Zimmer für sich beanspruchen. Noch zehn Jahre nach dem Krieg schimpfte mein Großvater über diese Unverschämtheit, ihn derart in seinen Rechten zu beschränken.

      Die Maßnahmen der provisorischen Zivilverwaltungen der Städte, die Bevölkerung zum Bau von Eigenheimen anzuspornen, war eine weitere Maßnahme, um dem Elend der Menschen abzuhelfen, die kein Dach über dem Kopf hatten. Gleichzeitig war es auch ein Mittel, die Trümmer zu beseitigen und Deutschland wieder aufzubauen.

      Tante Emilie wurde Trümmerfrau und baute sich in Castrop-Rauxel ein Häuschen. Der Garten, der zu diesem Reihenhaus gehörte, half ihr, die schwersten Hungerjahre zu überleben.

      Hier wohnte in den Zimmern unterm Dach Tante Martha, die Mutter von Tante Emilie. Tante Emilie versorgte und pflegte sie bis zu ihrem Tod. Aus diesem Grund erbte Tante Emilie die letzten Wertgegenstände der Familie: den großen Flügel von Onkel Hermann, sein wertvolles Cello und seine Geige.

      Tante Emilie erzählte mir, dass ihr Vater einmal einem Zigeuner zuhörte, wie er Geige spielte. Onkel Hermann war verzaubert von dem Klang dieser Geige. Er bat den Zigeuner, ihm die Geige zu verkaufen. Er war bereit, jeden Preis zu zahlen.

      Die Geige war schwarz lackiert. Durch einen jahrzehntelangen Gebrauch kam an einigen Stellen die originale Farbe der Geige durch den schwarzen Lack zum Vorschein. Mir wurde erzählt, dass Zigeuner wertvolle Geigen gestohlen haben. Um die Herkunft dieser Instrumente zu vertuschen, hätten sie die Geigen schwarz angemalt.

      Als ich Tante Emilie am Telefon erzählte, dass meine vierjährige Tochter Geigenunterricht bekam und dass wir beide im Orchester spielten, war sie euphorisch begeistert. Ich erweckte die große Glanzzeit der Familie Schellhase wieder zum Leben. Als Tante Emilie starb, hat sie mir die Zigeuner Geige ihres Vaters vererbt.

      Onkel Hans rief mich an und erzählte mir die Geschichte. Eine Bedingung dieser Erbschaft war, ich müsse selber nach Deutschland kommen und mir die Geige abholen.

       Siebenbürgen

       Siebenbürgen

      I.

      Onkel Hans kam aus Siebenbürgen. Die Siebenbürger Sachsen waren 1140 vom ungarischen König Géza II. nach Siebenbürgen geholt worden. Siebenbürgen liegt im Karpatenbogen im heutigen Rumänien. Damals gehörte es zu Ungarn.

      Die Siebenbürger kamen vom Mittelrhein, dem Niederrhein und aus Flandern, aus dem Moselgebiet und aus Luxemburg, aber nicht aus Sachsen. In der Kanzleisprache wurden die Siebenbürger als „Saxonen“ bezeichnet. „Saxonen“ kommt als Sprachverdrehung von „Sassen“, also Ansässigen. Daraus wurden später „Sachsen“.

      Die Einwanderungswelle der Deutschen wurde geplant durchgeführt, um die Ostgebiete zu kultivieren und auszubauen. Die Deutschen sollten aber auch das Land vor eindringenden Feinden verteidigen. Bei den Überfällen von Tataren und Mongolen und in den Türkenkriegen waren die deutschen Einwanderer aktiv an der Verteidigung des Landes beteiligt.

      Die deutschen Ansiedler hatten bereits 1224 im „goldenen Freibrief“ umfassende Rechte bekommen. Sie bekamen die Territorialautonomie zugesprochen. Sie hatten eine Selbstverwaltung. Sie hatten ein freies Besitz- und Erbrecht. Sie hatten eine eigene Gerichtsbarkeit. Sie konnten nach eigenem Ermessen ihre Richter und Pfarrer wählen. Sie waren frei von Zöllen und Abgaben. Sie hatten eigene Zeitungen, Schulen und eine eigene Universität.

      Diese umfassenden Privilegien ermöglichten es den Siebenbürger Sachsen, bis ins 20. Jahrhundert ihre Sprache und Kultur zu pflegen und weitere zu entwickeln. Damit haben sie ihre deutsche Identität bewahrt. Diese Wahrung ihrer ethnischen Identität wurde ihnen während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit zum Verhängnis.

      Siebenbürgen gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zur Doppelmonarchie Österreich – Ungarn. Die Doppelmonarchie verlor den Krieg und wurde aufgesplittert. Reichsgebiete wurden abgetrennt. Neue Staaten wurden etabliert. In dieser Federkriegsverwaltung der Siegermächte kam Siebenbürgen zu dem neu errichteten Staat Rumänien.

      Nach dem rumänisch-deutschen Wirtschaftsvertrag kamen die Siebenbürger Sachsen in den dreißiger Jahren unter den Einfluss des Naziregimes. Das bedeutete, das beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges junge und gesunde Männer von deutscher Abstammung zum deutschen Kriegsdienst eingezogen wurden. Hierzu gehörte auch Onkel Hans.

      Aber auch der Ribbentrop-Molotov-Vertrag beeinträchtigte das Schicksal der Deutschen in den Ostgebieten. Dieser Vertrag wurde am 27. August 1939 unterschrieben. Es war ein Nichtangriffspakt mit geheimen Zusatzprotokollen. Diese Protokolle regulierten die Aufteilung Osteuropas zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Die Baltischen Staaten und Polen hörten auf zu existieren. Die Russen marschierten ins Baltikum ein und schmissen alle Deutschen aus ihren okkupierten Gebieten raus. Die Deutschen marschierten in Polen ein und schmissen alle Russen aus ihren okkupierten Gebieten raus. Das hieß Umsiedlung. Sie wurde mit der Parole: „Heim ins Reich“ umschrieben.

      In dieser Zeit wurde der Begriff „Volksdeutsche“ und „Reichsdeutsche“ erfunden. Reichsdeutsche waren die Deutschen, die innerhalb der Grenzen des deutschen Reiches von 1939 wohnten. Volksdeutsche waren die Deutschen, die Jahrhunderte lang in anderen Ländern gelebt hatten. Hierzu gehörten neben den Siebenbürger Sachsen auch die in Russland lebenden Wolgadeutschen und die in Polen und im Baltikum lebenden Deutschen. Alle wurden „umgesiedelt.“

      Besonders gesunde und arbeitsfähige junge Volksdeutsche sollten mit Familie und Kindern in den von Nazideutschland okkupierten Gebieten angesiedelt werden. Zuerst wurden die Volksdeutschen in Lagern aufgesammelt. Diese Lager wurden von der SS verwaltet. Hier wurden die Volksdeutschen administrativ erfasst, kategorisiert und ausgesiebt.

      Onkel Hans war bei Ausbruch des Krieges Anfang zwanzig. Er war verheiratet und,hatte zwei gesunde Kinder. Er war deutsch mit einem jahrhundertalten Ahnenpass. Er war gesund und ohne Erbkrankheiten. Er war Facharbeiter in der Milch- und Käseproduktion. Für die herrschende Naziideologie gehörte er damit zur ersten Klasse von produktivem Menschenmaterial.

      Normalerweise wurden die volksdeutschen Familien geschlossen mit Frau, Kindern, Eltern und Schwiegereltern umgesiedelt. Onkel Hans kam alleine in das Umsiedlungsauffang-Lager nach Zdunska Wola. Ich fragte Onkel Hans, wo seine Frau war.

      „Sie ist in Siebenbürgen zurückgeblieben.“

      „Warum?“

      „Sie kam aus dem Banat“, sagte Onkel Hans.

      „Aus dem Banat? Was ist das?“ Onkel Hans winkt ab. Er äußerte sich nicht weiter dazu. Meine Informationen musste ich mir alleine aus Lexika und Internett zusammen sammeln.

      Die Banater Deutschen waren ursprünglich Schwaben, also auch Deutsche, aber Deutsch und Deutsch war doch nicht das gleiche. Geschichtlich betrachtet sind die Banater Schwaben zwischen 1686 und 1848 in die Pannonische Tiefebene eingewandert, während die Siebenbürger Sachsen schon seit dem 12. Jahrhundert im Karpatenbogen wohnten und eine hohe Kultur entwickelt hatten.

      Die Einwanderung der Schwaben war von der Österreichischen Monarchie organisiert worden. Diese Schwaben hatten niemals dieselbe Autonomie und Selbstverwaltung zugesprochen bekommen wie die Siebenbürger Sachsen. Sie hatten sich verschiedenen staatlichen Machtstrukturen anpassen müssen.

      Außerdem waren diese Gebiete im 16. Jahrhundert hauptsächlich von Serben und Walachen bevölkert. Die Banater Schwaben hatten also keine staatsrechtliche Autonomie und teilten zudem den gleichen Lebensraum mit anderen Bevölkerungsgruppen. In dieser Symbiose haben