Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit. Heide Fritsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heide Fritsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737525084
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ungewollt, denn ich war, was die Masken verspotten. Ich war der Clown, der Narr und der überhebliche Besserwisser. Ich identifizierte mich mit meiner Schwäche, mich nicht verteidigen zu können. Ich identifizierte mich mit meiner Abhängigkeit von meinen Lebensumständen. Ich identifizierte mich mit meinem Versagen und Nicht-Können. Ich identifizierte mich mit meinen Fehlgriffen und Fehlentscheidungen. Ich identifizierte mich mit meiner Feigheit und mit meinem So-Sein. Ich identifizierte mich mit den Gegebenheiten des täglichen Lebens. Ich schob jede Verantwortung von mir: „Das Leben ist eben so. Was kann ich daran ändern?“ Das war meine Rechtfertigung.

      Die menschliche Seele ist träge. Sie will den Status quo. Das ist ihr Arkadien.

      Erst im Kampf verbarg ich mich instinktiv hinter Masken. Erst in der Reaktion gegen meine Vernichtung verschwand ich hinter geschminkten Fassaden, instinktiv. Das war ein Fluchtreflex. Ich wusste es nicht. Ich kämpfte, um zu überleben. Die Flucht in die Maske, in die Camouflage war mein Überlebensmodus.

      Dann las ich Deine Todesanzeige. Da wachte ich aus dem Schlaf des seligen Vergessens auf.

      „Dir geht es gut. Du bist glücklich und zufrieden.“, das war meine Rechtfertigung, ein Leben lang. Das war meine Lüge mir selber gegenüber. Das war meine Lüge, Dich zu vergessen.

      Meine Lüge? Meine Lüge! Ich war im Engadin gefangen. Als ich abfuhr, wusste ich, dass ich log: „Ich kann die Gegebenheiten nicht ändern.“ Das war eine Lüge. Man kann immer, wenn man will.

      Ich aber habe das Engadin in den Bücherschrank gestellt. Ein Buch unter Büchern, eine Sache unter anderen, eine Erinnerung an die nächste. Wir haben unsere Gewohnheiten. Es häuft sich an, ein ganzes Leben mit Fotos, Nippes, Erinnerungen, Nostalgie, Klüngel, Plunder und Klimbim. Daran darf keiner rühren.

      Nicht? Nein! Jedes Mal, wenn ich daran rührte, verbrannte ich mich. Ich wagte es nicht, in meine Seele zu schauen. Ich konnte nicht in meine Seele schauen. Ich wollte nicht meine Feigheit sehen. Ich durfte nicht meine Feigheit sehen. Ich verschwand in meinem Trauertal.

      Silvaplana Blue? Fang bloß nicht an zu spinnen. Weiter, immer weiter, jeden Tag, immer weiter trotteln.

      Wohin? Einfach fallen lassen. Sich gehen lassen. „Was kann ich ändern?“ „Gar nichts!“

      Das „Gar nichts“ wurde zur Rechtfertigung meines Lebens.

      Gar nichts? Kann man gar nichts tun? Alles, was ist, ist konkret, sagt Wittgenstein. Dann ist auch das Gar-Nichts konkret. Aber ja doch, es ist! Wir tun nichts, also sind wir nichts.

      Es geht uns nichts an! Also sind wir dieses Nicht-Angehen. Wir trotteln, im Leben, in der Masse, mit der öffentlichen Meinung, im Konsensus. Also sind wir dieses Trotteln, diese Wiederholung des Nichts und Nichts und Nichts bis in alle Ewigkeit. Unser Leben wird zu diesem Nichts. Wir werden dieses Nichts. Das ist konkret.

      Damit komme ich zu Nietzsches Masken.

      Denn im Erwachen, im Erkennen war die Lüge zu ende. Was mir blieb waren die Masken.

      II.

      Nietzsches erste Maske ist die heitere Maske Epikurs. Diese Maske ist „Eine der feinsten Verkleidungsformen“ des Leidens. Sie ist Maske der Heiterkeit, die um ihrer selbst willen missverstanden werden will. Diese Menschen „wollen missverstanden sein“, sagt Nietzsche.

      Nietzsches zweite Maske ist die Maske der Wissenschaft, welche sich einen „heiteren Anschein“ gibt. Dieser heitere Anschein lasse darauf schließen, „dass der Mensch oberflächlich“ sei. Diese Menschen „wollen zu einem falschen Schluss verführen“, sagte Nietzsche.

      Nietzsches dritte Maske ist der freie freche Geist. Es ist die Maske der Menschen, „welche verbergen und verleugnen möchten, dass sie zerbrochene, stolze, unheilbare Herzen sind … und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzu gewisses Wissen“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse)

      Hinter den Masken versteckt sich die Verzweiflung, die sich selber überwindet, die sich selber reflektiert und die über sich selber lächelt. Das ist eine Verzweiflung, die sich im Lachen aufhebt.

      Epikurs Maske der heiteren Gelassenheit über Schmerz und Tod, über den Verlust von Liebe und über die Sehnsucht hinweg,ist das Lachen aus dem Leiden, im Leiden, vom Leiden und über das Leiden hinaus.

      Nietzsches Maske des wissenschaftlichen Menschen ist ein spöttisches Spiel und ein lächelnder Spiegel menschlicher Hochmut, gefangen und eingefangen in sprachlichen Masken.

      Die Maske des Narren ist ein verzerrtes Narrenspiel vom Driften des Menschen in den Wiederholungszwang, in die Gleichgültigkeit, in Neurosen, Psychosen und Traumata. Die Maske des Narren spiegelt spottend das langsame Sterben des Menschen. Sie repräsentiert die Erstarrung und Verkümmerung des Lebendigen und die langsame Transformation des Lebendigen in Materie.

      Die Maske des Narren spiegelt und verbirgt die Todesangst des Menschen vor dem Auslöschen der Individualität mit Spott und Hohn vor dem Spott und Hohn der Menschen.

      Nietzsche bittet um Ehrfurcht vor den Masken.

       Jakutsk

      

Jakutsk

      I.

      Onkel Hans rief mich aus Drabenerhöhe an. Tante Emilie war gestorben. Sie hatte mir die Geige ihres Vaters vererbt. Wenn ich diese Geige haben wollte, müsse ich selber nach Deutschland kommen.

      In meiner Kindheit hatte mir Tante Emilie oft von der Geige ihres Vaters erzählt. Tante Emilie lebte für und von ihren Erinnerungen. Diese Erinnerungen kreisten um die großbürgerliche Vergangenheit der Familie Schellhase. Die Geige von Hermann Schellhase, dem Vater von Tante Emilie, war in den Erzählungen der Familie vom Mythos umsponnen. Dieser Mythos ist mit der Geschichte der Familie Schellhase verbunden.

      II.

      Der Sommer 1914 wurde heiß. Onkel Herman saß in St. Petersburg und spielte Cello. August saß in Gerthe und spielte Herrenmensch.

      Tante Martha, die Mutter von Tante Emilie, saß in Claswipper und spielte keine Rolle. Sie musste sich mit drei kleinen Kindern alleine durchwurschteln. Aber über so etwas spricht man nicht.

      Am 28. Juni 1914 wurde der österreichische Thronfolger in Sarajewo erschossen. Der österreichische Kaiser Franz-Joseph war alt und ohne Erben. Österreich wollte Revanche.

      „Revanche? Was ist das?“, schrieen die Russen und rüsteten.

      „Revanche? Was ist das?“, schrieen die Franzosen und rüsteten.

      „Revanche? Was ist das?“ schrieen die Engländer und rüsteten. Eigentlich wussten sie nicht, was sie wollten. Aber man hatte Verträge - geheim hin, geheim her - Verträge sind Verträge. Man rasselte mit dem Säbel, weil alle es taten.

      In der Zeit, als der Kaiser in Berlin seinem kaiserlichen Vetter in Wien einen Blanko Scheck schickte: „Auf ewig Treu und Redlichkeit!“, saß man in der Patsche und wusste es nicht.

      Ganz Europa meinte, glaubte, vermutete, befürchtete, ahnte. Der Darwinistische Virus zerfraß die Gehirne. Das Recht des Stärkeren wurde zum göttlichen Gesetz. Entweder wir fressen oder wir werden gefressen. Entweder wir schlagen zu oder wir werden erschlagen. Entweder wir schießen oder wir werden erschossen. Das Recht des Stärkeren muss man beweisen. Also auf! Marschieren!

      Ganz Europa marschierte. Die ganze Welt marschierte. Das ganze zwanzigste Jahrhundert marschierte. Wohin? In die Schützengräben.

      Da saß man und konnte weder vorwärts, noch rückwärts. Das saß man und wusste