„Keine richtigen Fenster, nur Oberlichter, durch die man nicht nach draußen gucken kann!“, stellte sie die für sie verheerenden Konsequenzen der Hallenbauweise fest. Saß sie in der Falle? Was kam da auf sie zu? Erfüllte sich jetzt doch der Spruch von dem Täter und dem Tatort?
„Keine Panik, Nina!“, rang sie um ihre Beherrschung und einen kühlen Kopf. Jeden Moment konnte die Tür, durch die sie selbst gerade eben erst eingetreten war, von außen geöffnet werden, jeden Moment konnte es auch ihr gestriger Peiniger sein, der erschien!
„Ich muss mich verstecken!“, hämmerte es in ihrem Kopf. „Dort drüben am Kopfende, hinter den Platten!“
Aber dort waren die Ratten! Es war außerdem zu weit bis dort! Mit tapsenden kleinen Schritten huschte sie hinter eine Säule, die einen mächtigen Stahlträger trug, auf dem seinerseits die Last des Daches ruhte. Sie würde sich nicht gut genug dahinter verbergen können! Die Säule war viel zu schmal, als dass sie ihren Körper vollständig verdecken konnte. Aber sie war nahe und deshalb schnellstens erreichbar gewesen. Zumindest einen kurzfristigen Schutz vor Blicken würde sie bieten, wenn jemand in die Halle treten würde und sich seine Augen zunächst an das diffuse Licht würden gewöhnen müssen. Wenn sich dann doch jemand nähern würde, müsste sie im geeigneten Moment aus ihrem Notversteck springen und loslaufen. Sie würde die Überraschung des Fremden ausnutzen, um nach draußen und der belebten Straße entgegen zu flüchten!
Ihr Herz raste und ihr Atem ging stoßweise, während sie Sekunde um Sekunde ausharrte, ängstlich lauschend, ob irgendwelche Geräusche das Erscheinen eines Menschen ankündigten oder anzeigten.
„Warum habe ich das gemacht?“, warf sie sich vor. „Ich trage ganz allein die Schuld daran, was hier jetzt passiert! Wie konnte ich nur so dumm sein?“
Sie wartete und wartete, aber es tat sich nichts. Langsam keimte die Hoffnung in ihr auf, dass sie sich verhört hatte, oder dass zwar vielleicht jemand mit seinem Auto vor der Halle erschienen war, aber ohne jede Absicht, diese auch zu betreten. Dann würde es auf keinen Fall der Dreckskerl von gestern sein!
Als zwei oder drei Minuten vergangen sein mochten, wagte sie sich hinter der Säule hervor und schlich mit schnellen kurzen Schritten dem Eingang entgegen, immer darauf gefasst, dass darin doch noch plötzlich jemand auftauchen und sie vielleicht sogar ihrem Peiniger gegenüberstehen würde. Für einen Augenblick verharrte sie, als sie ihr Ziel erreichte, um zu horchen. Als sie nichts Verdächtiges vernahm, drückte sie vorsichtig den Griff nach unten und die Tür einen Spalt breit auf, durch den sie nach draußen lugen konnte. Es war nichts zu sehen! Sie stieß ihren Fluchtweg ganz auf und trat ins Freie. Auf dem Areal vor dem Gebäude hatte sich nichts verändert. Kein Auto war auf der Freifläche zu sehen. Lediglich in der Einfahrt zum Grundstück stand ein Lieferwagen, der vorhin dort noch nicht gestanden hatte. Dessen Fahrer musste sie so erschreckt haben, als er die Tür ins Schloss geworfen hatte und der wahrscheinlich an den Wänden der umliegenden Gebäude mehrfach gebrochene Schall in die leere Halle gedrungen war.
Sie war froh, als sie wenige Sekunden später wieder in ihrem Auto saß und sie dessen Fahrertür hinter sich zuziehen konnte. Ihr Herzschlag hatte sich wieder etwas beruhigt und auch ihre Atmung normalisierte sich. Eine Weile blieb sie regungslos sitzen, in Gedanken noch einmal die vergangenen Minuten durchgehend. Je länger sie nachdachte desto bewusster wurde ihr das Risiko, das sie grundlos eingegangen war. Nein, es war nicht grundlos gewesen! Es war ihre Art gewesen, die Erlebnisse zu bewältigen. Sie war stolz auf sich, stolz auf ihren Mut und ihren Antrieb, dem Dreckskerl schon einen Tag nach dessen Tat die Stirn zu bieten!
Sie hätte allerdings nicht einmal Hilfe herbeirufen können, wenn sie in der Halle in einem Versteck gefangen gewesen wäre, stellte sie mit einem Blick auf ihr Handy fest, das auf dem Beifahrersitz lag.
„Ein Anruf in Abwesenheit“ war auf dem Display zu lesen. Es würde nicht die gestrige Nachricht ihrer Mutter gemeint sein, denn diese hatte sie bereits gelöscht. Sie nahm das Gerät zur Hand, tippte die Nummer zum Abhören ihrer Mobilbox ein und wartete auf das Abspielen der Nachricht.
„Ich bin´s, Mutti! Ich mache mir Sorgen um dich! Ich hatte dich schon in deiner Wohnung zu erreichen versucht. Bitte ruf so bald wie möglich an! Bis gleich!“
Die Stimme ihrer Mutter klang so aufgeregt wie gestern, so aufgeregt, wie dies auch der Text der hinterlassenen Nachricht anzuzeigen schien. Nina trennte die Verbindung, um sofort die Dienstnummer ihrer Mutter anzuwählen.
„Stadt Dortmund, Büro Dr. von Braunefeld, Lange, guten Tag!“, meldete sich diese schon nach dem ersten Rufzeichen.
„Ich bin´s, Mutti, Nina! Du hattest auf meine Mailbox gesprochen.“
„Ja, Nina, schön dass du anrufst! Ich hatte mir Sorgen um dich gemacht, weil ich dich nirgendwo erreichen konnte, weder bei dir zu Hause noch auf dem Handy. Ist alles in Ordnung bei dir?“
„Ja, Mutti, es ist alles in Ordnung! Und bei dir?“
„Auch! Mach dir keine Sorgen! Ich habe viel zu tun. Du weißt schon! Wo bist du? Bist du unterwegs?“
„Du wirst nicht glauben, wo ich bin!“, spannte sie ihre Mutter auf die Folter, um jedoch unverzüglich fortzusetzen.
„Ich bin an der Berliner Straße!“
„Du willst doch wohl nicht in die ...!“, entsetzte sich Erika Lange, und die plötzliche Erregung ließ sie die Bezeichnung des Ortes vergessen, dem ihre Tochter fern bleiben sollte.
„In die Lagerhalle meinst du sicher, wo es passiert ist!“, half Nina aus, um sogleich fortzusetzen, bevor ihre Mutter antworten konnte.
„Mach dir keine Sorgen, Mutti! Ich war schon drinnen und bin heil wieder herausgekommen. Ich sitze jetzt in meinem Auto, fühle mich besser als noch vorhin und werde gleich nach dem Ende unseres Gesprächs nach Hause fahren.“
Erika Lange atmete schwer. Ihre Sorge und Erregung waren deutlich zu spüren.
„Nina, du bist verrückt! Was hast du dir bloß dabei gedacht?“, zeigte sie sich fassungslos.
„Lass gut sein, Mutti! Ich musste mir einfach diese Genugtuung verschaffen. Es ist doch auch alles gutgegangen! Vorher habe ich mein Auto aus der Tiefgarage geholt. Dort war mir wirklich sehr unwohl und ich war froh, als ich endlich nach draußen fahren konnte.“
Ihre Mutter schien sich langsam wieder zu beruhigen.
„Was hast du noch vor? Mach bloß nicht noch so etwas Verrücktes!“, drang sie auf Nina ein.
„Ich fahre jetzt, wie gesagt, nach Hause. Um 11 Uhr habe ich einen Termin bei meiner Gynäkologin. ich muss mich deshalb etwas beeilen, damit ich rechtzeitig fertig bin.“
„Bei deiner Gynäkologin? Du meinst, dass gestern ...?“, sorgte sich ihre Mutter und vermied den Satz zu vollenden, indem sie das letzte Wort in die Länge zog.
„Nein, Mutti, meine ich nicht! Ich habe aber trotzdem um einen Untersuchungstermin gebeten. Ich fühle mich nicht arbeitsfähig und möchte mir dies attestieren lassen.“
„Gut, Nina, ich habe heute noch eine ganze Reihe von Erledigungen vor mir und werde deshalb eher selten hier an meinem Arbeitsplatz zu erreichen sein. Bitte versuch es auf meinem Handy, wenn etwas sein sollte!“
„Wir telefonieren heute Abend, wenn du wieder zu Hause bist, Mutti?“
Erika Lange zögerte für einen Moment.
„Ist gut, machen wir es so, Nina!“, meinte sie dann. „Ich rufe dich an! Ich möchte nicht, dass meine Leitung zum Festnetz besetzt ist, und werde deshalb mein Handy benutzen. Der Typ wird sich heute Abend wieder melden. Versuch du es später dann bitte nicht auch noch, es sei denn, dass es etwas Wichtiges zu besprechen geben sollte!“
„Ja, kannst du schon sagen, wann du mich heute Abend anrufen wirst?“
„Vielleicht so gegen sechs Uhr, wenn es dir recht ist. Du meldest dich aber bitte auf jeden Fall vorher bei mir, wenn die Untersuchung durch deine Gynäkologin zu etwas Besonderem führen sollte, ja?“
„Mache