Das Gebäude erschien ihr nicht so dunkel und trist wie gestern, eher sogar hell, verwahrlost zwar, aber hell.
Es waren miteinander streitende Gefühle, die ihr Gemüt bestimmten. Das Gebäude hatte nichts Bedrohliches an sich, wirkte hell und nur gewöhnlich, und dennoch verspürte sie eine unbeschreibliche Angst, die sich gerade mit dieser Halle verband. Es war nicht das Gebäude, das für ihre Pein, die gestern ihren Anfang genommen hatte, verantwortlich war, sondern es waren die Dinge, die ihr darin widerfahren waren, die ihr ein Verbrecher angetan hatte. Einer oder sogar mehrere!
Im weiter zurück liegenden Teil der Fassade bemerkte sie mehrere eingeworfene Scheiben in den Oberlichtern, die den Leerstand wie kaum ein anderes Gebäudemerkmal nach außen demonstrierten. Das trügerische Wetter leistete seinen Beitrag dazu, dass der Ort nicht nur wie gestern Tristesse ausstrahlte, sondern mit einem gewissen Maß guten Willens sogar als pittoresk bezeichnet werden konnte.
„Industrieidylle, Charme einer dem Abriss geweihten Industriebaracke“, bemerkte sie, und es fiel ihr auf, dass ihr diese pathetische Beschreibung half, den selbst verursachten Stress der Situation zu beherrschen.
Vereinzelte Sonnenstrahlen zwängten sich durch den wolkenverhangenen Himmel und tauchten die Gebäudefront in ein unruhiges Licht.
„Es ist schön hell hier, ganz anders als vorhin in der Tiefgarage“, stellte sie fest.
Erneut hielt sie inne, als sie das Gebäude erreichte. Ihr Auto war aus ihrem Sichtfeld verschwunden, wurde von der vorspringenden Ecke des eben passierten Gebäudes verdeckt. Sie war froh, dass sie den unvermeidlichen Besuch in der Tiefgarage hinter sich hatte und wieder über ihr Auto verfügen konnte. Trotz der Beleuchtung war es nie wirklich hell dort. Heute aber war ihr dies besonders aufgefallen, hatte sie das diffuse Licht als besonders bedrückend empfunden. Zu allem Überfluss hatte sie gestern (war es wirklich erst gestern gewesen?) keinen Frauenparkplatz im Bereich nahe der Parkhausaufsicht gefunden und ihren Wagen gezwungenermaßen in einem besonders dunklen Winkel geparkt. So war ihr nichts anderes übrig geblieben, als alle Vorbehalte und Ängste zur Seite zu schieben und in das Halbdunkel einzutauchen, wie sie den Gang in das Zwielicht empfunden hatte. Allenfalls selten hatte sie sich früher schon einmal so beeilt, das Parkhaus wieder zu verlassen. Noch nie aber hatte sie sich auf dem Weg zu ihrem Auto schon einmal so oft umgesehen und vergewissert, dass sie nicht verfolgt wurde. Sie hatte ihr Auto unversehrt vorgefunden, sogar verschlossen. Zuvor hatte sie sich nicht mehr daran erinnern können, ob sie gestern noch zum Aufschließen des Wagens gekommen war.
Es hatte sicherlich keinen Grund dafür gegeben, doch nach dem Einsteigen hatte sie sofort den Verschlussknopf nach unten gedrückt, um kein Öffnen der Tür von außen zuzulassen und vor dem plötzlichen Zusteigen eines womöglich unvermittelt auftauchenden Fremden geschützt zu sein. Es war zwar niemand zu sehen gewesen, der hierfür überhaupt in Betracht gekommen wäre, aber dies hatte sie nicht an ihrer Vorsichtsmaßnahme gehindert. Nie zuvor war sie so froh wie heute gewesen, das Ausfahrtticket, das sie diesmal am Kassenautomaten den Wert von zwei Tageskarten gekostet hatte, in den Schlitz des Schrankenautomaten stecken zu können. Es war wie eine Befreiung gewesen, als sich die Schranke unverzüglich gehoben und die Ausfahrt freigegeben hatte.
Und was hatte sie veranlasst, unverzüglich wieder zu dieser Halle zu fahren, statt nach Hause, an den Ort also, an dem ihre Pein begonnen hatte?
„Hat sie nicht!“, verbesserte sie sich gedanklich sofort. „In der Tiefgarage hat alles angefangen, und die liegt längst hinter mir!“
Sie stand vor der massiven Tür, durch die sie gestern noch aus der Halle geflüchtet war. Woher kam diese Anziehungskraft, die das Gebäudeinnere auf sie ausübte? War es normal, wenn sich ein Opfer einer solchen Tat, wie sie ihr widerfahren war, bereits einen Tag später freiwillig und aus eigenem Antrieb wieder am Ort des schrecklichen Geschehens einfand?
„Man sagt dem Täter nach, dass er an den Tatort zurückkehrt, nicht dem Opfer!“, ging es ihr durch den Kopf.
„Das ist normal! Das ist normal, und das ist meine Art, mit der ganzen Sache fertig zu werden!“
Entschlossen umfasste sie den Handgriff, drückte ihn nach unten und zog die sich nach außen öffnende Tür von deren Quietschen begleitet auf. Ihre Erinnerung hatte ihr vorgegaukelt, dass diese schwergängiger war, als sie dies jetzt tatsächlich empfand.
Einige Sekunden und ein paar Schritte später fand sie sich in der Halle stehend wieder. In ihrem Rücken fiel die Tür geräuschvoll ins Schloss, die sie nach dem Aufziehen unbeachtet offen stehen gelassen hatte. Bei dem Knall fuhr sie zusammen, obwohl er eigentlich nicht unerwartet kommen konnte, da er sich sowohl durch den abnehmenden Schein des durch die Öffnung einfallenden Lichts als auch durch das unvermittelt wieder auftretende Quietschen angekündigt hatte. Das in der Halle herrschende Zwielicht hatte sie in sich aufgenommen und nötigte ihr einen Moment des Wartens ab, damit sich ihre Pupillen an die Verhältnisse anpassen konnten. In ihrer Erinnerung hatte das Gebäude nur auf der Längsseite, durch die sie es jetzt wieder betreten hatte, eine lange Reihe von Oberlichtern gehabt. Tatsächlich aber glich die zweite Längsseite der ersten wie ein Ei dem anderen und auch in deren oberer Fensterreihe waren mehrere Scheiben eingeworfen. Der Wind sorgte für ein unbeständiges Heulen und war auch für einen leichten Luftzug verantwortlich, den Nina in ihrem Gesicht spürte.
„Außer mir ist niemand hier!“, sagte sie sich. Ihr Herz hatte unvermittelt wie wild zu schlagen begonnen und ihre Beine zitterten.
Ein gelegentliches Knacken, das von verschiedenen Stellen der Dachkonstruktion ausging, war eine Zeit lang das einzige Geräusch, das neben dem leisen Heulen des Windes an ihre Ohren drang.
Sie musste mindestens eine Minute so dagestanden haben, als ihr die Unschlüssigkeit bewusst wurde, die sie an dieser Stelle festzuhalten schien. Sollte sie weiter in die Halle hinein gehen, vielleicht zu jener Stelle, an der sie gestern zu sich gekommen war, oder konnte sie jetzt diesen Ort schleunigst wieder verlassen?
„Ich kann gehen! Nichts hält mich hier fest! Ich habe es mir und diesem Dreckskerl bewiesen, dass ich mich nicht unterkriegen lasse!“
Am entfernten Kopfende des Gebäudes lehnten großflächige, scheinbar aus Holz gefertigte Platten schräg an der Wand. In der benachbarten Hallenecke stand für Nina nicht weiter definierbares Gerümpel herum, beim Leerräumen der Halle vergessen, oder vielleicht hatte sich jemand auch seines Unrats entledigt, vom unverschlossenen Gebäude hierzu eingeladen.
Ein plötzliches Rascheln aus der Gerümpelecke riss sie aus ihren Gedanken. Sie starrte hinüber, konnte aber keinen Grund für das Geräusch erkennen. Ob es hier Ratten gab? Bestimmt gab es hier Ratten! Sie mochte diese Tiere nicht, ekelte sich vor deren langem nacktem Schwanz.
„Gestern habe ich dort vorn am Boden gelegen, ebenfalls nackt!“, wunderte sie sich über die abstruse Assoziation, die ihr gestresstes Gehirn ihr zumutete.
„Bestimmt gibt es Ratten hier! Sie finden hier Unterschlupf und in der Umgebung wird es sicher auch genug zu fressen für sie geben.“
Ein Schauer überzog ihren Körper.
„Den Täter zieht es an den Tatort zurück!“, fiel ihr erneut ein, und diesmal empfand sie Angst bei diesem Gedanken, eine beklemmende Angst. Was würde sein, wenn sich dieser Spruch auch in ihrem Fall erfüllen würde, vielleicht in den nächsten Minuten? Niemand würde erscheinen, schon gar nicht jetzt und schon gar nicht der Täter! Es würde für ihn viel zu gefährlich sein, nochmals an diesem Ort aufzutauchen. Und wenn er etwas verloren hatte, es hier vermutete, vielleicht auch einfach nur etwas vermisste?
Sie zwang sich diese Gedanken abzuschütteln. Sie war allein in diesem Gebäude und sie würde allein bleiben!
Vorsichtig, beinahe verzagt und an jemanden erinnernd, der prüfend über das Eis eines Teiches schleicht, drang sie tiefer in die Halle ein, der Stelle entgegen, die von ihrem Blut markiert war, an der sie gestern zu sich gekommen war. Ein weiterer Schauer lief ihren Rücken hinunter, als sie den Blutfleck erreichte, sodass sie sich mehrmals schütteln musste. Rattenkot! Es war ganz eindeutig frischer Rattenkot, der neben und sogar auf ihrem Blut lag! Die Viecher mussten sich von dessen Geruch leiten lassen haben, immer auf der Suche nach etwas Fressbarem. Angewidert starrte Nina