Kein und Aber oder die gestohlene Zunge. Gabriele Plate. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Plate
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745066111
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dieser Komet zur Zeit der zweiten, morgendlichen Rushhour in einem Linien Bus, warum saß diese Erscheinung nicht mindestens in einem Taxi?

      Vielleicht hatte sie gerade ihren Chauffeur gefeuert. Vielleicht hatte er einen Unfall verursacht und ihren Jaguar zu Schrott gefahren, und sie war ärgerlich und ungehalten davongestürmt. Aber warum mit dem Bus? Dieser Chauffeur war bestimmt verletzt worden, und so wie er diese Frau einschätzte, hatte sie ihn seinem Schicksal überlassen. Möglicherweise ohne Krankenversicherung. Frauen wie diese zum Chef zu haben, war bestimmt kein Honigschlecken. Wahrscheinlich ein mieser Arbeitsvertrag oder gar keiner, und der alte Mann konnte nun sehen wo er blieb.

      Paul lenkte sich in letzter Zeit oft in Gedanken von seinem Elend ab, indem er Situationen oder Gegebenheiten, die hätten sein können, es aber nicht waren, durchdachte. Seine Gedanken verließen den imaginären Chauffeur und wandten sich der über ihn schwappenden Hilfsbereitschaft der vermeintlichen Verächterin sozialer Gerechtigkeit zu. Er ordnete dieser Frau Überfluss zu, selbstverständlichen Überfluss, der von ihr ebenso selbstverständlich als Tugend an sich anerkannt wurde. Ihr Auftreten bewies ihm das. Sie gehörte zweifellos zu Jenen, die besaßen und sich sicher waren, zu Recht zu besitzen. Er kannte diesen Geruch. Das Geld zirkulierte beinahe sichtbar an der Oberfläche, so wie es seinen Vater gekleidet hatte. Obwohl sein Vater diese fragliche Tugend lieber wie einen Heiligenschein über sich hatte schweben lassen.

      Ihre Unbefangenheit rundete sein Vorurteil ab, er hatte nicht das geringste Interesse an dieser Person. Paul brachte eher Verständnis oder Sympathie für zurückhaltende, bescheidene bis hilfsbedürftige und weniger kostspielig gekleidete Frauen auf, es konnten auch hoffnungslos verlorene Wesen sein.

      Und dann gab es plötzlich einen gewaltigen Ruck in seinem Gedankenablauf. Etwas, das wie ein Riss in seine Herzgegend fegte. Er nahm erstaunt seine Sonnenbrille ab. Die erahnte Managerin hatte wiederholt seine Lippe von einigen erneut hervorquellenden Blutstropfen befreit und dabei zum ersten Mal den Augenkontakt bewerkstelligt, erzwungen, denn ihre andere Hand hielt mit zartem Griff sein Kinn fest. Seine Nasenflügel bebten, er nahm von dieser Hand einen undefinierbaren Geruch wahr, es war ein Geruch, der ihn beinahe zu Tränen rührte.

      Paul war in den letzten Monaten ein echter Smeller geworden. Er roch nicht, er witterte, und er zerlegte das Gewitterte in von ihm erfundene Geruchssequenzen. Seine erzwungene Sprachlosigkeit hatte sich, zusammen mit der Wirkung der Chemieprodukte, zu einer unerhörten Schärfung seiner Sinne arrangiert, das war ihm größtenteils lästiger als dass es ihn bereicherte. Doch hier, an diesem späten Morgen in einem Linienbus, war es ausnahmsweise einmal bereichernd.

      Ihre gepflegten Fingernägel robbten sanft über sein Babykinn, während er wie ein kleines erregtes Tier daran schnupperte. Seine Erregung war fast greifbar. Eine unbedingte Vertrautheit ohne Worte schwappte über ihn, ausgehend von ihrem Duft, ihrem Blick und dem leichten Schleifen über sein Kinn. Er verhielt sich ganz still, als sei er ein braves Kleinkind, dessen Mutter seinen Mundbereich von Essensresten säubert. Diese Vertrautheit schlich sich nicht ein, sie stürmte über sein Ganzes und nahm Besitz von ihm.

      Nun hätte sie die Nebenfrau des Diktators eines afrikanischen Kleinstaates sein können, seine in den letzten Monaten selbst auferlegte Abneigung gegen Betrachter, besonders gegen weibliche, war für einige Sekunden zum Erliegen gekommen. Er reagierte, wie aus einer Lähmung heraus, wie ein Beutetier, das sich dem Blick der Schlange nicht entziehen kann. Er stand dort an die Haltestange geklemmt und starrte zurück. Ganz gegen seine Gewohnheit.

      Der Zustand dieses plötzlichen Gedankenstillstandes wurde von einem Phänomen begleitet, in Form einer Nähe, die den Verstand ignorierte. Diese Nähe war direkt aus dem Unterbewusstsein hervorgestürmt, sie hatte alle Gedanken weggefegt und war ohne die geringste Bewegung des Zweifels in ihm. Diese Nähe ergriff alles und glühte in Paul. Er erlebte die Erlösung einer Vertrautheit, die in der Tiefe seines Anfangs ruhte, wie ein Luftsog aus seinem „Frühsten Sein“. Ein Zustand, der wie eine Lichtquelle in seinen grauenhaft kalten Morgen gehievt worden war. Eine Dimension, fern von Trauer oder Schmerz, eine Dimension des wunschlosen Angekommen-Seins.

      Dieser Moment der Erfüllung dauerte nur wenige Sekunden. Dann platzte diese Blase einer wahren Wirklichkeit, und eine Art Hoffnung kam zurück, obwohl Paul zuvor jeder Hoffnung gedanklich vermeintliche Fußtritte verpasst hatte.

      Der Anstoß eines Draußen, der ihn im innersten Drinnen des Seins getroffen hatte, war durch dieses Taschentuchwesen ausgelöst worden. Einer Person, die er, nach seinen so hastig erhaschten Vorurteilen, als akzeptables Mitglied, seines ohnehin sehr knappen Bekanntenkreises, normalerweise nicht zugelassen hätte.

      Die erahnte Chauffeurtyrannin sah ihn immer noch schweigend an, Tränen unterstrichen ihren intensiven Blick, als sei er dadurch zusätzlich in Anführungsstriche gebettet worden. Pauls Lähmung löste sich, es blieb das Erstaunen.

      Wie war das möglich? Etwas an dieser Person, die ihm wie aus einer Modezeitschrift entglitten schien, hatte den Sprung auf eine andere Seins-Ebene in ihm ausgelöst. Ein glückliches Kinderlachen wäre ihm für solch einen Sprung erklärbar gewesen und viel lieber. Oder ein schillernder Käfer, ein sich im Wind wiegender Blütenbaum, tausendmal lieber. Selbst ohne Blüten, einfach nur ein Baum, mit oder ohne Laub. Paul saß gerne unter Bäumen, dann lauschte er endlos und erhoffte sich die Lösung.

      Die Frau brach erneut das Schweigen. Dieser Bruch transportierte unerwartet hilflose Schmeicheleien aus ihr hervor. Die glitzernden Tränen schrieb Paul ihrem Mitleid mit ihm zu. Schauerlich! Sie hatte seinen Zustand zweifellos erkannt.

      Sie überschüttete ihn plötzlich, ganz im Gegensatz zu vorher, mit abgedroschenen Sätzen, mit süßlich verstellter Stimme und mit einem Eifer, als wollte sie etwas Billiges teuer an ihn verkaufen, oder auf Teufel komm heraus, diesen nadelöhrschmalen Kontakt festhalten und vernähen. Ihr gefiel seine Lederjacke, sie fragte nach seinem Rasierwasser, sie fand das Wetter fantastisch winterlich, und sie hatte, nach unzähligen weiteren Bekundungen, Lust auf einen Kaffee mit ihm.

      Paul klapperten diese Bedeutungslosigkeiten vor die Füße. Rasierwasser? Lächerlich, er benutzte keins, es gab seit Monaten nichts zum Rasieren, und der Schneematsch war ekelhaft. Ihre jetzige Wortwahl gefiel ihm noch weniger als das hochtrabende Gerede zuvor.

      Paul war lang, dürr und wenig mutig, ein kranker Ritter, sein Schwert war die Wollmütze. Trotzdem, er hatte den Eindruck, als erwartete sie, dass er sie ebenfalls mit Komplimenten überschütte. Wie Unrecht er hatte!

      Er vernahm weiterhin ihr ununterbrochenes Klappern, als bemühe sie sich krampfhaft, ihn zu beeindrucken, um sein Vertrauen zu gewinnen. Er zeigte eine gequälte Mine mit einem Ausdruck der Bitte, ihn in Frieden zu lassen. Er bedauerte, das nicht sagen zu können. Verdammt, was ging ihn diese fremde Person überhaupt an!

      Paul fühlte sich durch ihre übertriebene Aufmerksamkeit nicht nur belästigt, sondern auch bestürzt. Solches und ähnliches Gehabe um seine Person war immer wieder verletzend, da er wusste, dass all diese abgedroschenen und doch süßen Worte um eine erwünschte Bekanntschaft mit ihm, sich in betretenes Schweigen auflösen würden, sobald der fremde Ausrufer den Fehler erkannt hätte. Pauls Fehler!

      Denn Paul war nicht in der Lage zu antworten. Zumindest nicht mit normal verständlichen Worten. Seine Blicke, Gesten, Mimik und Körperbewegungen, das war seine Sprache. Er konnte schreien, die Kehle funktionierte und er beherrschte die zungenlosen Buchstaben und Laute, Zustimmungen oder Verneinungen, die sich mit den Kehllauten zufrieden gaben. Auch wenn diese Laute gerne im Rachen steckenblieben, als hätte sich ein Wollfäustling darüber gefaltet. Laute, die keine Zunge benötigten, das waren seine Übergangsretter. Retter, die er inzwischen auf eine Art von sich zu geben wusste, ohne dass man auf ihn wie auf einen Schwachsinnigen reagierte oder ihn behandelte, als sei er im Zustand der Volltrunkenheit. Denn so erschien es dem Zuhörer, wenn Paul mit den Silben rang, wenn er versuchte verständliche Worte über seine Lippen zu würgen. Außerdem antwortete man ihm, wenn seine unstimmigen Laute erklangen, wenn man seinen „Fehler“ erkannt hatte, ungehörig laut. Dann wurde geschrien, als sei er zusätzlich gehörlos.

      Niemals wieder würde er versuchen, gegenüber Unbekannten, das Wort als Mittel der Kommunikation zu wählen. Es gab allerdings auch Menschen, die sich mit ihm unterhielten