Seine Augenlider hatten ihren geschwungenen Haarschmuck zuallerletzt abgeworfen. Die Brauen waren nicht einmal mehr spärlich, es gab sie nicht mehr. Das nackte pure Paul Gesicht war zum Vorschein gekommen, als hätte der frühere Haarbestand seine Durchschaubarkeit zuvor erschwert.
Dieser allerorts gefürchtete Haarverlust erschien ihm nebensächlich, nicht der Rede wert. Das war im Fall seines Überlebens eine sich erneuernde Kleinigkeit, die er als nichtssagend in Relation zum Ganzen wahrnahm. Doch diese Kleinigkeit leuchtete wie ein Ausrufer, saugte die Gedanken der Menschen ins Jenseits. Sie bemitleideten ihn nicht nur, falls sie durch seine Unachtsamkeit einen Blick auf das Nackte werfen konnten, sie hatten auch oft Angst ihn anzusehen, blickten betroffen in eine andere Richtung und machten eilends einen Schritt zur Seite, als sei sein Zustand ansteckend. Deshalb die Mütze, deshalb die lächerliche Sonnenbrille im Grau des ersten Schneegestöbers. Vielleicht war es ja ansteckend, wusste man das so genau? Allerdings, falls das zuträfe, dann sicherlich in einem früheren Stadium.
Vielleicht wurden die Menschen von Krebs befallen, weil sie sich gegenseitig mit dem jeweiligen Verlangen ihrer Zeit ansteckten. Weil sie sich infizierten mit Angst und Stress, mit Zukunftsfurcht, mit dem Mangel des Vergessenkönnens und dem Wahn der Lebensabsicherung. Mit Zukunftsvisionen materieller Sicherheit, den Irrläufern der Moral und krampfhafter Berechnung der Gefühlswelt, bis ins tausendste Jahr?
Das musste ja krank machen, musste etwas herbeirufen das alles zerfraß und mit seiner Wucht der Überwucherung erstickte, es auslöschte, um bei Null wieder anzufangen. Das ewige Verlangen der Zeit, Geburt, Wachstum, Ziel und Zerstörung.
Aber wieso Paul, warum ausgerechnet er? Er hatte noch kein Ziel erreicht, er war doch anders. Er hatte das Glück zu würdigen gewusst, hatte es bewusst gekostet und nicht wie selbstverständlich verschlungen. Er hatte sich in sein erstes Glück hineingetastet, sein Herz darin gebettet und die Freude begrüßt. Er war geliebt worden und er glaubte ebenfalls geliebt zu haben. Er hatte dem Schutz dieser Liebe vertraut, bis sich all diese zarte Heftigkeit der Gefühle plötzlich in einen riesigen Felsblock der Trauer verwandelt hatte, auf ihn gestürzt war und ihn zu erdrücken drohte. Und dann war er, in seiner erst kurzen Trauer, so einschneidend, so unpassend, und wie er meinte, unwürdig und brutal zu sich selbst hin abgelenkt worden.
Konnte seine Trauer diese Krankheit ausgelöst haben? Seine lebensverachtende Einstellung in diesen ersten Wochen nach Aishas Ableben? Sein oft durchdachter Wunsch der Geliebten in den Tod zu folgen? Konnte sich dieser destruktive Gedanke, einer verdrehten Solidarität, in ihm so wirksam festgefressen haben, dass seine Abwehrkräfte es als Befehl gedeutet und dadurch die unkontrollierte Zellteilung zugelassen hatten? Um dieses clevere, eigentliche Grundprinzip der Evolution, im Zeitraffer zu entfachen?
Nein, dachte Paul, so schnell funktionierte es wohl doch nicht. Er musste diese Pest der Menschheit, diesen gnadenlosen Zyklus der Mutation, Selektion und des Wucherns der Zellen, schon vorher in sich gehortet haben, vielleicht hatte seine Trauer sie nur zum Ausbruch gebracht.
Außerdem, hieß es nicht, wahre Liebe sei unsterblich? Und dass es letztlich, in einem vorgezogenen, wahrnehmbaren Letztlich, keine Rolle spiele, ob der geliebte Mensch noch unter den Lebenden weilte oder nicht?
Mit dieser Weisheit konnte Paul nichts anfangen, dieser Reichtum des Liebens hatte keine Zeit gefunden sich in ihm zu entfalten. Seine Liebe zu Aisha war nicht bis in seine Seele gelangt, sie war noch in der Verwirrung der Begierde, des stolzen Besitzens und der Reflexion seiner Zukunftswünsche steckengeblieben. Trotzdem, ohne seine Geliebte, ohne ihr lebendiges Dasein auf dieser Welt und an seiner Seite, war sein Leben nichts wert. Ohne sie, fühlte er sich seines Herzens entrissen, er schwelgte in dem Sog der Lebensverneinung und fühlte sich dort am rechten Platz.
Paul hatte nach ihrem Tod zunächst einmal die Aufnahme seiner Ernährung auf ein schmerzhaftes Maß minimiert. Ebenso das Trinken, das Schlafen und das Wachen. Er hatte seine Arbeit völlig gemieden und jeden Kontakt zu anderen Menschen abgeschnitten. Er hatte beschlossen die Askese herauszufordern, bis er hoffentlich auch starb. Aisha zur Liebe. Es hatte ihn nicht die geringste Mühe gekostet zu fasten, jeglicher Verzicht war ihm in diesem gefährlichen Sinnestaumel besonders leicht gefallen. Der Gedanke im Vergehen begriffen zu sein, noch von angenehmen Schmerz begleitet, hatte ihn berauscht und erfüllt.
Bis der Krebs ihm unerwartet zur Hilfe gekommen war und sein nekrophiles Verlangen mit realer Morbidität unterstützt und eilig vorangetrieben hatte. Der Krebs hatte sich höhnisch in das trotzige Spiel gemischt. Paul empfand ihn, wie ein Jemand, wie ein Individuum, das sich an die Spitze zur bitteren unausweichlichen Gegenwart gedrängt und ihm das Ruder plötzlich aus der Hand gerissen hatte. Genauso plötzlich war das Rad seiner Todessucht in pure, sich wild aufbäumende Lebensgier umgeschlagen.
Das Nagen an seiner Lippe stockte kurz, die Epidermis der linken Unterlippenseite war erschöpft, sie hatte zum hundertsten Mal nachgegeben und war wieder einmal aufgeplatzt. Er konnte das leicht salzige Süß seines Blutes nur ahnen, nicht schmecken, und der Geschmack von Ekel vor seinem vergifteten Blut hatte die Oberhand gewonnen.
Seine Oberlippe funktionierte fabelhaft, sie ortete die neue alte Wunde sofort und wischte eifrig darüber, als wolle sie die Zunge ersetzen. Es war nicht der geringe Schmerz, der ihr den Weg wies, die Oberlippe nahm die neue Wunde aus reiner Gewohnheit wahr, sie erkundete und streichelte diese Blessur und versorgte sie mit Speichel. Dieser kleine Reflex reihte sich zu den überlebensaktiven Automatismen, dagegen war Paul machtlos. Er konnte nichts gegen diese unerwünschte Streicheleinheit unternehmen, dafür reichte auch seine Kraft nicht. Das Bewusstsein stolperte letztlich dazu, worauf die eifrige Zahnecke ihre Tätigkeit einen Moment lang einstellte, und mit ihr, das willige Hineinsaugen der unteren Lippe in den Mund.
Paul erstarrte gelassen. Eine seiner Begabungen. Er witterte ein Gegenüber, einen Beobachter, abgesehen von sich selbst. Dieses weibliche Gegenüber entnahm aus der inneren Brusttasche eines taillierten, mit bunt besticktem Futter versehenen Mantels, ein Stofftaschentuch, entfaltete es flugs und tupfte damit behutsam seine Lippenblessur. Sie sprach ihn an.
„Moment mal, sorry, Sie sollten diesen Unsinn wirklich lassen!“ Ein starker, runder Akzent rollte über ihre Lippen. Eine Engländerin? Paul stieg vollends aus seinem Gedankenknäuel heraus und drehte sich ein wenig zur Seite, jedoch ohne ihre mitmenschliche Geste abzuwehren. Diese Frau stand dicht neben ihm im Bus und offenbarte flink, mit einigen weiteren Sätzen, einen Teil ihrer Gesinnung. Ein bleiernes Konglomerat aus erfolgreicher Geschäftsfrau, Managerin und Psychotherapeutin schwebte ihm entgegen. Gepflegter Geist und Belesenheit lugten aus den nächsten fünf Sätzen hervor. Er empfand diese Zusammensetzung als Zumutung, etwas passte nicht, etwas war klebrig unangenehm. Konnten Geist und Belesenheit unangenehm sein?
Ja, das konnten sie, in höchstem Maße. Paul empfand dieses Gerede nervig, überheblich, besserwisserisch und aufgesetzt. Ähnlich, als würde ein Onkologe in einem Sterne-Restaurant, bei Champagner und Kaviar über den letzten erfolglosen Fall reden. Überheblich, als sei dieser Sprecher mit dem amüsanten Tonfall, selber für immer und ewig in Sicherheit. In Sicherheit vor den Krankheiten, die er erfolglos behandelte.
Diese Art von Gesprächen hatte Paul oft genug mitanhören müssen. Er hatte diesen Zusammenkünften, in welchen man sich ausschließlich über die komplizierten Fälle zu unterhalten pflegte, immer äußerst ungern beigewohnt. Man traf sich in den exklusivsten Restaurants der Stadt. Doch seine Teilnahme war, in nicht allzu ferner Vergangenheit, von ihm erwartet worden. Paul hatte bei diesen Treffs immerhin den Haupteigner einer berühmten Privatklinik vertreten, als rechter Arm seines Vaters, dem diese Klinik gehört hatte.
Ja, Belesenheit konnte sehr lästig auf ein Gegenüber wirken, aber der Geist? Man konnte doch in wenigen Minuten nicht feststellen, ob ein Mensch diesen in sich hat erwachen lassen, oder ob er im Nebel schwamm.
Paul wägte neuerdings solche Dinge schnell ab. Eine Frage nach der Uhrzeit, und er glaubte bereits zu wissen wes Geistes Kind sie gestellt hatte. Diese Frau war außerdem für seinen Geschmack zu sorgfältig und offensichtlich kostspielig gekleidet. Sie war sehr auffällig geschminkt und übertrieben frisiert.