Im Bann von Moral. Brigitte Griehl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Brigitte Griehl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748536352
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schlägt das Buch zu und folgt dem Klingelton.

      Langsam, etwas unentschlossen, zieht er die Schlafzimmertür auf, das Klingeln schwillt an, bis es schrill die Stille durchschneidet.

      Ein merkwürdiger Duft liegt in der Luft.

      Er schließt die Augen, konzentriert sich auf diesen Duft.

      Seine Sinneswahrnehmung verstärkt sich.

      Er schmeckt den Duft, streng, animalisch, süß.

      Er spürt sein Gefühl von Hilflosigkeit.

      Wie in Trance nähert er sich dem Nachttischschrank. Das Telefon vibriert auf der glatten Holzfläche. Und als er die Hand zum Hörer streckt, hält er auf halbem Weg inne.

      Er fixiert das Bild in einem silbernen Rahmen, verschwom-

      men, wie in Nebel gehüllt, dann flimmert es, Blitze flacken

      auf, bis schleichend Konturen sichtbar werden.

      Während ein Gesicht Gestalt annimmt, begreift sein Hirn, was seine Augen sehen.

      ----Zwielichtige Wahrheiten----

      „Im Namen der Staatsanwaltschaft eröffne ich die Ermittlung gegen Sie, Frau Annika Jakobi, wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung.“

      Gewissensbisse peinigen Annika und sie kämpft gegen ihre Schuldgefühle an, um die Situation körperlich zu überstehen.

      Tief durch die Nase einatmen bis in den Bauch hinein. Langsam ausatmen. Vielleicht habe ich beim Einparken ja nur ein

      anderes Auto geschrammt, ohne dass ich es bemerkt habe,

      beruhigt sie sich.

      „Ihr Diplom-Zeugnis ist das Corpus Delicti.“

      Und da ist sie wieder. Die Angst, dass alles herausgekommen ist.

      „Wie heißt das Thema Ihrer Diplom-Arbeit?“

      Warum war ich so leichtsinnig? Ich hätte doch wissen müssen, dass Recherchen im Internet heute ein Kinderspiel sind.

      Annika braucht einige Sekunden, bis ihre Stimme ihr wieder gehorcht. „‘Raumordnerische Konzeption eines Ballungsraums‘ lautet das Thema.“

      Der stechende Blick des Polizeibeamten tastet ihr Gesicht ab.

      „Ihnen wird angelastet, Ihr Diplom-Zeugnis zum Verkauf angeboten zu haben.“

      Habe ich mich verhört? Sind meine Sinne völlig überreizt?

      „Wie bitte?“ Ihre Stimme überschlägt sich.

      „Ich wiederhole mich ungern.“

      Sie drückt ihr Kreuz durch, rutscht nach vorne auf die Stuhlkante. „Das stimmt nicht!“ Über die Härte ihres Tonfalls ist sie selbst erschrocken.

      Der Polizeibeamte beginnt den Satz in einem rauen, tiefen Ton, hebt mit jedem weiteren Wort seine Stimme, bis sie

      schneidend in ihre Ohren dringt.

      „Der Verdacht ist uns vom Bauamt der Stadt Bochum mitgeteilt worden, bei der Sie sich beworben haben. Sie bekommen nun Gelegenheit sich zu der Beschuldigung zu äußern!“

      Wie ein Karussell drehen sich ihre Gedanken, zunächst langsam, dann immer schneller. Sie muss es stoppen, ehe es sich überschlägt und die Wahrheit hinausschleudert.

      Als sie antwortet, wählt sie ihre Worte sorgfältig. „Ich habe mein Diplom-Zeugnis nicht verkauft. Ich habe es zusammen mit meiner Bewerbung beim Bochumer Bauamt eingereicht und …“

      Annika hört sich sprechen, doch ihre Stimme erscheint ihr fremd, als gehöre sie zu einer anderen Person.

      „Ich weiß“, schneidet er ihr das Wort ab.

      „Was haben Sie noch dazu zu sagen?“

      „Nichts“, antwortet sie einsilbig, um sich nicht in Lügen zu verstricken.

      Der Stuhl des Polizeibeamten schrammt über die Fliesen, als er sich erhebt. Mit einer Armbewegung weist er sie zur Tür.

      „Wir werden weitere Ermittlungen durchführen. Das Ergebnis wird Ihnen bekannt gegeben.“

      Mit beiden Händen stützt sich Annika auf dem Schreibtisch ab, ehe sie sich kraftlos hochstemmt.

      Nur nicht die Kontrolle verlieren.

      Wie in Trance verlässt sie die Polizeistation.

      Ein halbes Jahr später.

      „Dank der Aufmerksamkeit eines Angestellten im Bochumer Bauamt ist der strafrechtliche Umgang mit Ihrem Diplom-Zeugnis ans Tageslicht getreten.“

      „Du bist aufgeflogen“, flüstert ihre innere Stimme.

      Der Polizeibeamte trommelt mit den Fingern auf die Schreibtischplatte.

      „Alles vorbei!“, schreit es in ihr.

      Ihre Hände sind klamm und kalt.

      Ablenken muss sie sich. Sie schließt die Lider, versucht das Geschehen auszublenden, es durch eine angenehme Situation zu ersetzen. Und in dem Augenblick, als sich das Bild des Meeres, das mit dem Horizont verschmilzt, vor ihren Augen entwickelt, holt die Stimme des Polizeibeamten sie zurück in das Hier und Jetzt.

      „Die Bewerbung eines jungen Mannes, der sich um die Stel-

      le als Diplom-Geograph beworben hatte, lag auf dem Schreibtisch des Angestellten.“

      Fast greifbar liegt die Spannung in der Luft.

      „Er stolperte über das Thema der Diplom-Arbeit.“

      „Eine wortwörtliche Entsprechung Ihrer Diplomarbeit“, lächelt er süffisant.

      „Mein geistiges Eigentum!“, empört sich Annika.

      „Ihr Diplom-Zeugnis hat er gefälscht. Die Zensuren aufge-

      hübscht. Perfekt gemacht. Nur bei dem Thema der Diplom-

      Arbeit war er nachlässig.“

      Annika kraust die Stirn. „Was sind das für Menschen, die so etwas tun? Ich kann es nicht fassen!“

      Hektisch schüttelt er den Kopf. Seine Brille rutscht auf die Nasenspitze. „Schon in Schulzeiten hatte er Atteste gefälscht.“

      Er schiebt die Brille wieder auf die Nasenwurzel. „Seinem Abiturzeugnis hatte er auch zu ansehnlichen Ergebnissen verholfen.“

      Annika zuckt mit den Schultern. „Wie ist er denn an mein Diplom-Zeugnis gekommen?“

      „Raffiniert, unser Langzeitstudent. Er hatte ein Praktikum

      beim Bochumer Bauamt absolviert. Genau zu der Zeit, als Sie sich dort beworben haben.“ Verächtliches Lachen dringt aus einem Mund. „Dann war alles für ihn ein Kinderspiel.“

      Während er seinen Krawattenknoten lockert, prustet er: „Eins kann ich sagen, nicht ohne Schadenfreude. Sein Hochmut hat ihm das Genick gebrochen.“

      Theatralisch breitet er seine Arme aus. „Hätte er sich in einer anderen Stadt beworben, wäre er höchstwahrscheinlich nicht aufgeflogen.“

      „Aber nun kann er dem Staat nicht länger auf der Tasche liegen“, fügt er hinzu. „Wir haben rechtliche Schritte eingeleitet.“

      Demonstrativ schaut er auf die Uhr.

      „Unser Ermittlungsverfahren gegen Sie wegen der Beschuldigung des Verkaufs Ihrer Diplomarbeit ist demnach ge-

      genstandslos. Das Verfahren ist eingestellt worden.“

      „Damit habe ich gerechnet. Schließlich habe ich mir nichts vorzuwerfen.“