Im Bann von Moral. Brigitte Griehl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Brigitte Griehl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748536352
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Übergabe, 5.000 Dollar überwiesen, Stichwort 09.

      Maria Geese läuft ein Schauder über den Rücken. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie die jungen Mütter, gezeichnet durch die Strapazen der Geburt. Hört die ersten Schreie der Babys. Sieht die fremden Hände, die den Müttern ihre Kinder entreißen.

      Fieberhaft streift sie ihre Schuhe ab und hastet mit ausladenden Schritten auf den Bürgersteig. Rucksacktouristen mit hoch aufgetürmtem Gepäck, gekrönt von Schlafsack und Isomatte versperren ihr die Sicht. Kurz vor der abbiegenden Seitenstraße entdeckt sie ihn. „Sie haben etwas verloren!“

      Außer Atem überreicht sie ihm seine Brieftasche.

      Er steckt sie in seine Sakkotasche.

      Kommentarlos.

      Sie fixiert ihn mit stechendem Blick.

      Sein linkes Auge zuckt.

      Dann fächert sie genussvoll die Fotos auf und hält sie hoch wie eine Trophäe.

      ----Streng, animalisch, süß----

      „Mit dir habe ich nun überhaupt nicht gerechnet“, begrüßt Kay seinen alten Schulfreund mit vorwurfsvoller Stimme.

      „Ich hatte das Bedürfnis, dich mal wieder zu sehen“, erwidert Maximilian, „ nach so langer Zeit.“

      „Lass uns die Vergangenheit begraben“, wirft Kay mit scharfen Worten ein.

      Kurz ringt er mit sich, bis er mit versöhnenderer Stimme hinzufügt: „Aber da du den Weg zu mir gefunden hast, nimm bitte Platz.“

      „Ich habe mich nicht bei dir gemeldet. Ich hatte Sorge, etwas

      falsch zu machen.“ Bedächtig formuliert Maximilian seine Worte. Er will Kay nicht verletzen.

      Auf der Suche nach einem Foto von Kays verstorbener Frau lässt er seinen Blick schweifen. „Ich möchte nicht ständig an Jutta erinnert werden“, bemerkt Kai, als hätte er seine Gedanken gelesen.

      Während er die Kölnische Rundschau sorgfältig zusammenlegt, erklärt er. „Lange hatte ich mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen, um den Verlust psychisch zu verarbeiten.“ Er sucht Maximilians Blickkontakt. „Aber mittlerweile ist mein Alltag intensiv ausgefüllt. Philosophie-Studium, Italienisch als Senior an der Uni hier in Köln. Aktives Mit-

      glied im Kulturausschuss. Studiosusreisen.“ Ostentativ klopft er mit der Hand auf eine Ansammlung von Büchern, gestapelt auf der Armlehne seines Lesesessels. „Sieht so jemand aus, der Langeweile hat?“

      Maximilian seufzt.

      „Gabriele und du in eurem kleinen Kokon“, lacht Kay, „das Bild hat sich in mein Gedächtnis eingemeißelt. Alles habt ihr zusammen gemacht. Sogar euer Out-Fit, farblich perfekt aufeinander abgestimmt. Mal in Grün, mal in Blau. Aber ist nicht Beige eure Lieblingsfarbe?“

      Maximilian quält sich ein Lächeln ab. „Ich kann schlecht

      damit umgehen.“ „Mit der Farbwahl oder mit dem Kokon?“, schmunzelt Kay.

      „Gabriele ist ständig unterwegs. Hat eine Stelle als Kosmetikvertreterin angenommen. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie sich von dem Lockangebot bezirzen ließ: ‚Sie können leicht und unabhängig nebenbei Geld verdienen. Arbeiten Sie wann, wo und wie Sie möchten‘.“ Er starrt auf irgendeinen Punkt an der Wand. „Wenn es nicht so traurig wäre, könnte ich lachen.“ Sein Gesicht ist unbewegt, aber seine Augen verraten, wie schwer es ihm fällt, den Schein innerer Gelassenheit zu wahren.

      „Ihre Arbeitsstelle, unantastbar, eine heilige Kuh. Als ich protestierte, ich würde genug Geld nach Hause bringen, war sie empört. ‚Ich will mein eigenes Geld verdienen. Nicht den ganzen Tag den Haushalt machen und auf dich warten!´. So aufgebracht habe ich sie noch nie erlebt.“ Stöhnend atmet Maximilian aus. „Und dann sagte sie, nein, sie schrie fast ‚basta‘. Das Wort hätte sie früher niemals in den Mund genommen. Basta.“

      Kay geht in die Küche, kommt mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern zurück, und während er die Gläser füllt, murmelt Maximilian: „Anfangs war Gabriele schon da, als ich nach dem Büro nach Hause kam. Aber im Laufe der Zeit wurde es immer später.“

      „Bist du neidisch?“

      „Immer war sie für die Familie da. Es kommt sogar vor, dass sie über Nacht wegbleibt.“ Seine Stimme, fast ein Flüstern. „Ach, Maximilian, sie ist nicht nur eine attraktive Frau, sondern auch eine kluge. Sie wird ihre Gründe haben.“

      Maximilian ballt die Hand zur Faust. „Oft dauern Ihre Beratungen bis weit in die Abendstunden hinein. Dann muss sie sich ein Hotelzimmer nehmen.“ Er lacht holpernd. „Wie lächerlich. Soll sie sich doch die Zeit besser einteilen.“

      „Das ist für dich ein Problem?“

      Resigniert zuckt Maximilian mit den Schultern. „Immer öfter geschieht das.“

      „Willst du eine Frau, die den ganzen Tag vor dem Spiegel steht und ihre Haare kämmt?“

      Maximilian greift das Weinglas, dreht es zwischen den Fingern hin und her und stellt es wieder zurück auf den Tisch. „Sie hat sich absolut verändert. Sie schminkt sich nicht nur aufdringlich, sondern sie ist von einer intensiven Parfum-Wolke umgeben. Wie soll ich es beschreiben?“

      Er rümpft die Nase. „Streng, animalisch, süß.“

      „Das sind doch nur Äußerlichkeiten.“

      „Was soll ich machen? Nichts. Ich will sie nicht verlieren.“

      „Beschäftige dich doch mit deinen Hobbys.“

      „Ohne Gabriele macht mir nichts Spaß.“

      „Die Zeiten haben sich gewaltig geändert“, betont Kay, indem er die Hand zum Takt seiner Worte energisch auf- und abbewegt. „Wir leben nicht mehr in den 70er Jahren, in denen die Frau ihren Mann um Erlaubnis fragten musste, wenn sie berufstätig sein wollte.“

      „Jetzt fang du nicht auch noch mit dieser Leier an.“

      „Um diese Uhrzeit ist auf der A1 vor Leverkusen immer ein Stau. Ich schlage vor, Maximilian, dass du noch eine Weile bleibst und erst später nach Hause fährst.“

      „Es ist doch ohnehin egal, wann ich nach Hause komme. Was soll ich in der großen Wohnung, mutterseelenallein?“

      Wie in Zeitlupe schüttelt er den Kopf, während er den Zeigefinger mehrere Male gegen seine Brust stößt. „Wie es hier drin aussieht, interessiert sie nicht.“

      Mit schwingenden Schritten geht Kay in die Diele. „Ich werde uns jetzt mal Pizza holen.“ Als er seinen Trenchcoat überwirft, bemerkt er in das Rascheln des Stoffes hinein: „Übrigens, mein Lieber, die Bräuteschulen der 70er Jahre gibt es auch nicht mehr.“

      Kurz legt er eine Pause ein, um seiner Äußerung Nachdruck zu verleihen. „Die Frau als Dienstleisterin ihres Mannes! Das Rollenverständnis hat sich geändert, radikal. Lichtjahre liegen dazwischen! Capito?“

      Capito. Das Wort bekräftigt er mit einem kurzen Kopfnicken. „Capito?“

      Maximilian schweigt. Hinter seiner starren Miene ringen Gefühl und Verstand miteinander.

      Bevor die Tür ins Schloss fällt, ruft Kay: „Ich beeile mich.

      Damit nicht auch noch dein Magen knurrt. Außerdem will ich einen wichtigen Anruf nicht verpassen.“

      Maximilian erhebt sich vom Sofa und greift ein Buch von der Sessellehne. „Freiheit und Selbstbestimmung“.

      Er blättert.

      Unterstrichene Textstellen.

      Ausrufungszeichen am Rand.

      Persönliche Anmerkungen über einzelnen Kapiteln: „Willensfreiheit“, „Selbstverantwortung“, „Identitätsbildung“.