Was soll’s, meine Pizza wird kalt, ruft Stolte sich zur Ordnung.
Umständlich fingert er die letzten Flaschen Malzbier aus dem Kühlregal. Viel wird ja nie angeboten, so etwas trinkt außer ihm ja auch keiner mehr. Aber zur Pizza mag Stolte nichts anderes. Cola ist ungesund, Bier muss nicht sein, und Wasser oder Limo sind auch nichts für ihn. Malzbier aber hat Stolte schon als Kind gern getrunken. Damit hat ihn Mama aufgepäppelt, wenn er krank war oder nicht essen wollte. Und er wollte oft nicht essen, keine Ahnung, warum. Stolte ist auch heute noch kein großer Esser. Aber die Pizza am Samstagabend mit den Kollegen, die muss schon sein.
Jetzt müssen die kleinen Dumpfbacken an der Kasse auch noch mit Karte zahlen. Dauert doch nur noch länger. Erst recht, weil sie sich auch noch bei der Eingabe der PIN vertippen? Am Ende hat der Milchbubi die Karte noch seinem Alten geklaut ... Im Ernst, Stolte, das musst du jetzt wirklich nicht nachprüfen, das ist nicht einmal ein Anfangsverdacht, das hast du dir jetzt nur so zusammenfabuliert.
Aber wenn sich jetzt einer von denen auch noch hinter ein Steuer setzt und davonfahren will? Unternimmst du dann was, Stolte?
Ach was. Die Milchbubis haben den Stoff nur gekauft, aber noch nicht konsumiert. Sieht auch nicht so aus, als ob sie bereits angetrunken wären. Riecht vor allem nicht so. Und einen Lappen wird der Fahrer schon haben, weshalb solltest du das also überprüfen. Dass keiner von denen aussieht, als wäre er schon über fünfzehn, heißt doch nichts, diese verweichlichten Jüngelchen rasieren sich doch heute alle erst mit einundzwanzig das erste Mal. Wenn du dir jetzt allen Ernstes die Ausweise zeigen lässt, lachen sie dich aus, dummfrech, wie es ihre Art ist. Also reg dich ab, Stolte, bezahl dein Malzbier und mach dich auf zu deiner Pizza.
Die Bedienung an der Tanke ist ebenfalls noch blutjung, aber fett wie Sau. Tja, Mädel, du wirst wohl auch in zwanzig Jahren noch an Samstagabenden eher Dienst an der Tanke schieben, als mit Jungs loszuziehen.
Jetzt aber nichts wie zahlen und raus hier.
Stolte mag keine Tanken. Vor allem wegen der Neonröhren, deren Surren ihm immer im Kopf nachhallt, wirklich unangenehm ist das. Und wegen des weißen Lichts, das sie abgeben. Es lässt Gesichter aschfahl aussehen, seins insbesondere. Er ist schon von Haus aus ein blasser Typ, oder besser: ein hellhäutiger.
Draußen an den Säulen quetscht sich der milchbärtigste der drei Bubis hinters Steuer eines klapprigen Fort Taunus, vermutlich vom Erzeuger vermacht worden, um anschließend einen Kavaliersstart hinzulegen, der von klappernden Ventilen begleitet wird. Stolte stelzt derweil zu seinem Dienstwagen, als ihm drei weitere Typen auffallen, die des Wegs kommen. Merkwürdiges Gespann: Einer ihm Rollstuhl, ein Dicker, der ihn schiebt, und einer, der eher Stoltes Figur hat.
Moment mal ... Das ist doch Heiner Kühn. Der kühne Heiner.
„Heiner?“, spricht Stolte ihn fast ungläubig an. Alle Schupos im Bezirk duzen den ehemaligen Boxer. Das hat sich im Lauf der Zeit halt so ergeben, so oft, wie sie mit ihm zu tun haben. Da erlaubt Stolte sich das natürlich auch.
Kühn bleibt stehen und blickt seinerseits Stolte an, fast schon entgeistert und mit dem Missmut im Blick, der sich bei Typen wie ihm mit den Jahren einstellt, sobald sie einen Uniformierten erblicken. Seine beiden Begleiter sind ebenfalls stehen geblieben, schauen eher fragend als erschrocken.
Stolte tritt näher.
„Heiner, wo steckst du die ganze Zeit?“, fragt Stolte. „Wir suchen dich schon seit Tagen.“
Statt Antwort zu geben, hebt Kühn nur leicht die Schultern und schüttelt den Kopf.
„Wir waren schon kurz davor, dich zur Fahndung auszuschreiben“, erklärt Stolte.
Auch dem hat Kühn nichts zu entgegnen. Womit er offen lässt, ob ihm nur rätselhaft ist, was sein Gegenüber von ihm will, oder ob er es im Gegenteil nur allzu gut weiß, sich aber dumm stellen will, so lange es geht. Ist ja auch oft genug die beste Masche, den Mund nur aufzumachen, wenn es unbedingt geboten ist. Stolte, der aus dem platten Norden stammt, hat lange gebraucht, bis er kapiert hat, dass diese extreme Maulfaulheit ein typisch einheimisches Verhalten ist und keinesfalls zwingend von beschränktem Intellekt zeugt.
„Du weißt, um was es geht?“, fragt Stolte, um Kühn auf die Sprünge zu helfen. Beziehungsweise um ihm überhaupt einen Ton zu entlocken.
„Keine Ahnung“, entgegnet Kühn kopfschüttelnd und derart nuschelnd, dass dies kaum allein der Mundart geschuldet sein kann. Stolte tippt auf einen Kiefern-Schiefstand, ein Resultat der zahlreichen Brüche, die Kühn während seiner aktiven Zeit als Boxer erlitt.
„Es liegen Anzeigen wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung gegen dich vor“, klärt Stolte ihn auf. „Und zwar seit fast vierzehn Tagen schon. Deswegen wird es langsam Zeit, dass du mal eine Aussage machst.“
Der Dicke blickt entsetzt auf. Der im Rollstuhl dagegen wirkt geistesabwesend.
„Ich hab nichts gemacht“, beteuert Kühn.
Natürlich: Er hat nie was gemacht. Alle haben nie etwas gemacht.
„Der Anzeige zufolge hast du den Dorfkrug auseinandergenommen“, informiert Stolte ihn weiter. „Und zwei seiner Gäste.“
„Die haben angefangen“, wehrt sich Kühn, leicht aufjaulend. Man braucht schon ein gutes Gehör und ordentlich Erfahrung mit dieser Art Sprache, um aus diesem Genuschel richtige Worte herauszuhören.
„Weißt du was, Heiner? Du kommst jetzt einfach mal mit aufs Revier und gibst das Ganze so zu Protokoll, wie du es erlebt hast. Dann sehen wir weiter.“
„Das geht nicht“, mischt der Dicke sich ein. „Wir müssen weiter.“
Stolte blickt ihn genervt an, bleibt aber höflich und korrekt. Das ist die Schupo-Disziplin. Und die Mentalität eines Mannes aus dem Norden.
„Hören Sie, es ist für Heiner besser, wenn er sich umgehend zu dem Vorfall äußert. Wir versuchen, ihn seit Tagen unter seiner gemeldeten Wohnadresse zu erreichen, aber da taucht er ja nie auf. Wenn er jetzt wieder verschwindet, ohne dass er nicht wenigstens mal eine Aussage gemacht hat, handelt er sich nur noch mehr Ärger ein. Wir hätten längst ganz offiziell nach ihm fahnden lassen können, wenn wir ihn nicht so gut kennen würden. Und wenn Sie sein Freund sind, sollten Sie das einsehen – und ihm zureden, mitzukommen.“
„Ich verspreche, ich bring ihn am Montag persönlich bei euch vorbei“, schlägt der Dicke vor. „Jetzt muss er mit uns mitkommen. Unbedingt.“
Stolte schüttelt den Kopf. „Ich fürchte, das kann ich nicht akzeptieren.“ Was bildet dieser Typ sich überhaupt ein? Ihm Vorschläge zu machen …
Zwischen Kühn, Stolte und dem Dicken wechseln einige lange Sekunden lang Blicke hin und her, fragende, verzweifelte, abwartende. Der Rollstuhlfahrer hat mittlerweile den Kopf gehoben und starrt unverwandt Stolte an, so als versuchte er, in dessen Zügen einen alten Bekannten wiederzuerkennen. Von der Tanke weht ein leichter Dieselgeruch herüber.
„Polizei …“, sinniert der Alte.
„Du bist also Beschuldigter einer Straftat“, wendet sich der Dicke dann zunächst an Kühn, dann an Stolte. „Was ist, wenn du jetzt einfach von deinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machst und erklärst, dich demnächst über deinen Anwalt zu äußern?“
„Ich hab kein Geld für einen Anwalt“, stoppt Kühn diesen Versuch, eine sofortige Vernehmung zu verhindern, schon im Ansatz.
„Also,