534 - Band I. Milena Himmerich-Chilla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Milena Himmerich-Chilla
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745083651
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zeitgleich eines flüchtigen, dankbaren Lächelns, als seine Augen langsam nach oben rollten und ihren Fokus verloren.

      »Graue Opale«, schoss es Andrey durch den Kopf, während das Rauschen seines Blutes ihm in den Ohren dröhnte und die restlichen Geräusche verschluckte. Nicht einmal die Stimme des Magiers, der mit besorgter Miene zu ihm sprach, vermochte er zu hören. Einzig und alleine blieben ihm die letzten Worte seines Vaters, welche ihn ein Leben lang verfolgen würden.

      Die nunmehr leblose Hand fiel seitlich herab und versank in der blutgetränkten Erde unter ihr. »Vater?«. Andreys zitternde Hände griffen erneut nach Theodors, als Frandul ehrfürchtig, ob der aufopfernden Geste des Alben, dessen Lider bewegt schloss. »Ich danke dir, mein alter Freund. Möge deine Seele nun endlich die verdiente Ruhe finden, nach der sie so lange gesucht hat«, murmelte der Magier mit erstickter Stimme, als er sich, schwer auf seinen Stab stützend, aufstemmte und den Blick in Richtung des Horizontes richtete. Auch er begann zu weinen.

      »Vater?!«, wiederholte Andrey. »VATER!«, spie er in den Himmel, welcher im unausgesprochenen Vorwurf des Alben keine Schuldigkeit sah und stumm die Szenerie unter sich betrachtete.

       * * *

      Die gellenden Freudenschreie der zahlreich feiernden Soldaten hallten von den schroffen Felsen wider, als Merin das leblose, in Stoff gehüllte Kind schulterte und sich in den Schutz der Schatten zurückzog. »Wie hatte das Ganze solch eine Wendung nehmen können?«, dachte er, während seine Brauen sich enger zusammen schoben und nunmehr eine dunkelblonde Linie bildeten.

      Waren sie doch im Begriff gewesen, den Sieg für sich zu beanspruchen, änderte sich mit der unerwarteten Opferbereitschaft Theodors einfach alles. Die daraus resultierende Unaufmerksamkeit Liliths brachte die Wende. Indem er das Zusammenspiel der Magier störte, hatte Merin es jedoch geschafft, das Schlimmste abzuwenden.

      Da jener um die Strafe des begonnenen Hochverrates wusste, hatte er die allgemeine Verwirrung seiner Brüder genutzt und sich Liliths Hülle zu eigen gemacht. Anschließend war er mittels einem der schwindenden Schatten in den angrenzenden Wald entkommen.

      Dort entledigte er sich seines Mantels und wandte diesen um die regungslose Gestalt, der sein Herz gehörte. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er ihr wieder so nah sein konnte. Die bereits angedeuteten weiblichen Züge wirkten weich im Schlaf, während er ihren Körper fest im Griff hielt. »Es gab keine andere Wahl«, verteidigte Merin sein vorheriges Bemühen.

      Die ungewisse Zukunft schlug ihm just entgegen und formte sogleich einen schweren Kloß im Hals des Magiers, als dieser die Finger durch ihr silbern schimmerndes Haar zog und jenes folgend mit dem Rest des schweren Stoffes verdeckte. »Schlaf gut, du unsere Hoffnung, du mein Herz«, säuselte er, als er seine Lippen auf ihre Stirn legte und ihren Geruch in sich auf nahm. Er würde bei ihr sein, wenn sie ihre saphirblauen Augen erneut aufschlug, schwor er sich, während er den federleichten Körper anhob und über seine schmale Schulter legte. Augenblicklich hüllte ein süßlicher Duft den Gestaltwandler. »Flieder«, wisperte er mit einem sanften Lächeln.

      Merins goldglänzende, spitz zulaufende Augen richteten sich ein letztes Mal auf das Schauspiel hinter ihm und fixierten eine kleine Ansammlung noch immer gerüsteter Soldaten, welche einen unsteten Kreis formten und enger zogen. Aus Vorahnung heraus schloss der Magier seine Lider, während er sich bereits abwandte und kurz darauf ein markerschütternder Schrei, die in den Baumkronen ruhenden Vögel aufschreckte. »Auf bald, Bruder«, murmelte er geistesabwesend.

      So würde es weiter gehen, bis auch der Letzte aus Grindelwalds Heers, der nicht rechtzeitig seine Chance ergriffen hatte zu fliehen, gefallen war.

      »Merin!« Der Gestaltwandler zuckte augenblicklich zusammen. Hörig wandte er sich jedoch nach einigen Augenblicken um und betrachtete den Mann, welcher sich aus einem der tiefblauen Baumschatten schälte. Entgegen dem Magier hatte jener hünenhafte Seemann zu Fuß fliehen müssen.

       Bardur richtete seinen fahlen Blick durch das Gestrüpp, an den Soldaten vorbei, auf den verdreht da gelegenen Leichnam, der mit leeren, weit aufgerissenen Augen ihm entgegen starrte. Mitleid war etwas, was er sich nicht leistete.

      Unbeeindruckt der Brutalität, die sich vor ihm offenbart hatte, drehte er sich Zunge schnalzend davon ab. Er konnte sowieso nichts mehr tun und wollte auch keine weiteren Verzögerungen in Kauf nehmen.

      Merin, der mittlerweile an dessen Seite trat und das leblose Paket auf seinen Schultern trug, musterte sein Gegenüber mit vorwurfsvollem, stechendem Blick.

      »Wir müssen hier weg!«, bellte der Hüne mit seiner immerwährend tiefen Baritonstimme, als er auch schon den ersten Schritt in Richtung des nahe gelegenen Bergkammes tat. Merins Augen verengten sich so weit, dass er Mühe hatte, die Umrisse vor ihm aus zu machen. Dabei trat er vorsichtig und bewusst in Bardurs Fußstapfen. Dieser setzte stoisch einen Fuß vor den anderen. »Er hatte recht«, dachte Merin. Beide mussten schnell so viel Land zwischen sich und dem Schauplatz ihrer Niederlage schaffen, wie es ihnen in der nur kurzen Zeit möglich war. Die Soldaten würden nicht ewig dort auf dem Feld verweilen und einfach zusehen, wie sich ihre Feinde einen Weg in die Freiheit bahnten.

      Der Wunsch nach Vergeltung würde sie über die modrig riechenden Trampelpfade hinweg auf ihre Fährte führen. Diese Gewissheit trieb Merin an, der Bardur eng auf den Fersen war und ihm tiefer in den Wald hinein folgte.

       * * *

      »Grindelwald, was hast du getan?«, stöhnte eine, dem unansehnlichen Magier vertraute Stimme auf.

      Er musste sich schleunigst etwas überlegen, etwas Brillantes, etwas Nachvollziehbares, etwas, das seinen Hals aus der überraschend entstandenen Schlinge zog. Sterben konnte er zwar nicht, denn dieser Teil des Lebens war einem Magier mit seiner Ernennung vergönnt worden, aber es gab genügend andere Strafen, die keinen Unterschied machten, ob sterblich oder nicht.

      Nervosität dominierte seinen Geist, als die dunkel fleckige Spitze seiner Zunge über die trockenen Lippen fuhr. Nichts war verräterischer als das. »Denk nach! Denk nach! DENK NACH!« Weiter in den unüberwindbaren Wogen seiner Gefühle kratzte er unbewusst über die Spitze seines Fingerstumpfs. Das erste Mal in seinem Leben ließ sein windiger Verstand ihn im Stich und tauschte seinen Platz mit der Leere, die bereit war, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Ihm war nichts gegeben, um der Übermacht der sich heranpirschenden Umhänge entgegenzuwirken.

      Hagar, dessen kahles, von Fett überzogenes Haupt die Strahlen der untergehenden Sonne reflektierte, trat mit unsicheren Schritten über den sandigen Steinboden hinweg, während das lederne Knarzen seines Schuhwerks sich Schritt für Schritt in Grindelwalds Bewusstsein bohrte. Übelkeit stieg diesem auf und füllte seinen Mundraum mit bitterem Speichel.

      Immer wieder hielt Hagar in seinen Bewegungen inne, bevor er sich weiter, vorsichtiger als zuvor, Grindelwald näherte. Das dunkle Augenpaar, welches im Zentrum seines nunmehr fahlen Gesichtes gebettet lag, ließ ihn mehr tot als lebendig erscheinen. »Sag mir, dass es nicht wahr ist!«

      Grindelwald, der sich zwischenzeitlich seinem Gegenüber zugewandt hatte, fixierte den stark untersetzten Magier in seiner mitgenommenen nachtblauen Robe, die zu dessen Gunsten den Großteil seiner Statur verdeckt hielt. Die filigranen Goldausarbeitungen an den Säumen des schweren Stoffes wirkten, trotz zahlreich gezogener Fäden überaus prunkvoll in ihrem Detailreichtum und verrieten Grindelwald dessen nunmehr hohe Stellung.

      Hagar, der in seiner Bewegung nun endgültig innehielt und zwei Armlängen vor Grindelwald zum Stehen kam, reckte seinen Hals zum Zeichen, dass die von ihm ausgesprochene Frage noch immer einer Antwort bedurfte. »Es stand nicht in meiner Macht, sie aufzuhalten«, krächzte Grindelwald, der Schuldigkeit heuchelnd, sein Haupt gesenkt hielt und den rot getränkten, schlammigen Boden unter sich zu mustern begann. Noch immer glich sein Geist einem leeren Gefäß, als er die Augen schloss und seine ganze Energie darauf verwendete, einen leidenden Gesichtsausdruck zu imitieren.

      Die erhobenen, dunklen Brauen Hagars schoben sich tief herab und verschmolzen mit der Dunkelheit seiner Augen. »Grindelwald, ich mag zwar alt sein, aber kein Narr. Wie also kannst du es wagen, mit mir wie mit einem Solchen