534 - Band I. Milena Himmerich-Chilla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Milena Himmerich-Chilla
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745083651
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stand im Zentrum der abgeschnittenen Strähnen, die seine Füße nunmehr ringsum säumten. Dabei legte er die alte Violine seiner Mutter auf der Schulter ab, bevor er den schmalen Bogen ansetzte, und die ersten Töne den Raum auszufüllen begannen. So schloss er die Augen, während das Holz, das gebettet unter der geröteten Wange lag, seine Körpertemperatur annahm und so mit ihm zu verschmelzen schien. Seine feingliedrigen Finger rutschten gekonnt über die fest gespannten Saiten.

      Auriel spielte ohne sich an Noten zu halten, konnte er doch so seinen Gefühlen Ausdruck verleihen, ihnen eine Stimme schenken, während er selbst weiterhin stumm blieb. Die angespannten Bewegungen vertrieben hierbei jene Gedanken, die ihn bis zu diesem Tage hin gequält hatten. Er riss sich los vom Leben, das er kannte und träumte sich an fremde Orte, als die Geschwindigkeit seines Spiels stetig zunahm und seinen Höhepunkt in schiefen Tönen fand.

      Das Rosshaar riss an einigen Stellen und hing faserig herab, doch dies störte ihn nicht in seinem aufgekommenen Wahn. Wie besessen zog er den Bogen weiter in seiner Hand über das kreischende Instrument, sich seinem Schmerz ergebend. Schweißperlen standen ihm dabei auf er Stirn und funkelten im Schein der wild zuckenden Kerzenflammen.

       * * *

      Andrey stand noch immer am Fenster, hatte jedoch seinen Kopf in den Nacken gelegt und musterte die Holzdecke eingehend. Er lauschte dem Spiel seines Sohnes. Beklemmung erfüllte just sein schwer schlagendes Herz. In jenem Moment war es ihm vergönnt, die Trauer seines Sohnes erkennen zu dürfen, den Schmerz und die Verzweiflung, während sich die Töne nunmehr gehäufter überschlugen.

      Tränen standen dem Alb in den Augen, der seinem Sohn immer nur das Beste im Leben gewünscht hatte. Nun fand er sich wider seines Wunsches, hilflos, ohne zu wissen, wie er ihm hätte helfen können. Jener Moment war es auch, als seine Brust eine überraschende Wärme berührte.

      Andrey erschrak und blickte seinen Körper herab, während er das Pulsieren des blauen Lichtes unter seinem Leinenhemd wahrnahm und eilig nach der silbernen Kette tastete, die er jeher um seinen Hals trug. Geschwind riss er, nachdem er das Metall umgriffen hatte, daran und holte den Stein hervor.

      »Was?« Der Alte öffnete auch schon hektische den Verschluss und hielt das Schmuckstück vor seine Augen. Das blaue Licht, welches in regelmäßigen Abständen vom sonst grauen Stein aus ging, ließ ihn dabei entsetzt aufstöhnen. Dies konnte nichts Gutes bedeuten, davon war er überzeugt.

      Zögernd umschloss er den Stein mit seiner freien Hand und erfühlte jene wohlige Wärme, die von diesem ausging. Im Takt des Leuchtens vibrierte der Stein in seiner Handfläche. Andrey lief es augenblicklich eiskalt den Rücken herunter. War ihm doch, als hielte er ein schlagendes Herz. Diese Vorstellung bescherte ihm Übelkeit, während die Erinnerungen an den Tod seines Vaters aufkamen. So begann der Alte mit benebelten Gedanken durch die Bibliothek zu taumeln. Was sollte er tun?

      Das Violinenspiel Auriels fand ein abruptes Ende, als auch der Stein erstarb. Der Alte stöhnte erneut und legte eine Hand vor seinen Mund, als ihm bewusst wurde, dass die Reaktion des Steines einem Grund unterlegen war. Die längst vergessenen Worte seines Vaters fielen just über ihn her, während seine gestolperten Schritte ihn eilig zu einem der hinteren Regale führten. Dort angekommen, riss er panisch »Die Geschichte von Dunkelwald« und »Fichten und Tannen«, aus dem Regal. Beide Bücher landeten geräuschvoll auf dem matten Steinboden, wobei ihre Seiten knickten. Jener Umstand war Andrey im Moment egal. Mit vor Angst zitternden Händen warf er die Kette in das Fach, bückte sich und hob die beiden Bücher wieder auf. Diese schob er eilig zurück an ihren angestammten Platz. Er hatte nicht vor, die Kette in die Nähe seines Sohnes zu lassen, da er wusste, welch Schicksal mit dieser verknüpft war. »Du wirst ihn nicht bekommen!«

       Kapitel XV

      Hinter der westlichen Grenze – Festung Nimro

      Sein Keuchen schlug von den Steinwänden wider. Dabei erfüllte Panik sein Bewusstsein zur Gänze hin, während er sich unerbittlich antrieb und durch die schmalen Gänge der Katakomben rannte. Hatte er sich doch glücklicherweise davon stehlen können, nachdem seine Arbeit vollendet gewesen war.

      Er presste die Augen zusammen, während des kläglichen Versuchs, den Gedanken an das zähe Blut Amiras, welches an die Wände des Kuppelsaals gespritzt worden war, zu verdrängen. Dabei stieg ihm Galle auf. Zuckende Erinnerungen traten vor sein Blickfeld und zwangen ihn, das Erlebte erneut zu erfassen. Er hatte geahnt, was mit ihr passieren würde, jedoch erst, als es wirklich geschehen war, hatte er verstehen können, was dies bedeutete.

      Er keuchte heiser und bog um die Ecke. Dabei schliff seine Schulter an der gegenüber gelegenen, grob gemauerten Wand entlang. Der Stab taumelte gehetzt hinterher. War er doch darauf erpicht, seinen Meister in dem Gewirr aus Gängen nicht zu verlieren.

      Merin rannte weiter, als würde es um sein eigenes Leben gehen.

       * * *

      Grindelwald schnalzte missbilligend mit der belegten Zunge, während die zahlreichen Blutspritzer, die sein Gesicht zierten, langsam geronnen. Seine Hand umklammerte den Stab darin fester als gewöhnlich. So schloss er die Augen und schüttelte seufzend den Kopf.

      »Das hat uns gerade noch gefehlt«, donnerte die tiefe Stimme neben ihm, als Bardur sich zu ihm gesellte und dabei den Saaleingang im festen Blick hielt. »Das war doch abzusehen. Er hat eben nur das Mädchen im Kopf.« Der Hüne nickte und tat einen großen Schritt zurück. »Ich kümmere mich um ihn.«

      »Ich bitte darum.« Grindelwald nickte angedeutet, während er sprach und seinen Blick auf die Braunmäntel vor ihm legte. Er würde sich unterdessen um jene Probleme kümmern.

       * * *

      Merin standen Schweißperlen auf der Stirn, während durchtränkte Haarsträhnen seine Schläfen herabhingen und das Leinenhemd unangenehm am Oberkörper klebte. Sein Hals brannte, als das aufgekommene Seitenstechen ihn drängte langsamer zu werden. »Gleich bist du nicht mehr alleine. Halte noch etwas aus.« Merin hechtete ungeachtet der penetranten Schmerzen die steinernen, unregelmäßig geschlagenen Treppenstufen hinauf. Diese führten ihn in den Hof. Seine Muskeln brannten dabei schrecklich, als hätte sie ein wütendes Feuer ergriffen.

      Die sternenklare Nacht war bitter kalt. So bildete sein heißer Atem unzählige Wolken vor den trockenen Lippen. Diesen schenkte er jedoch keinerlei Beachtung. Er hetzte weiter und schluckte zähen Speichel herunter, während seine Beine sich, langsamer werdend, über die gefrorene Erde schoben. Am Rande des Hofes angekommen, streckte Merin mit einem beginnenden Lächeln seine Hand nach den Zügeln des braunen Hengstes, der angebunden inmitten weiterer Tiere stand, aus, als eine unerwartete Berührung ihn entsetzt aufschreien ließ. Er wusste sofort, dass an jener Stelle der Weg für ihn zu Ende war.

      Jegliches Gefühl unterhalb der fremden Hand, die seinen Nacken gepackt hielt, verlor sich. Seine Beine knickten unter der Last des Körpers ein. So fiel er ungebremst vornüber und schlug hart mit seinem Kopf auf den eisigen Untergrund. Mit verschwommenem Blick richtete er sein Augenmerk auf die rauchig wabernde Gestalt, die sich zu ihm herab beugte, während sein Blut langsam das blonde Haar tränkte.

      »Idiot«, sprach die konturlose Gestalt. Merin erkannte die Stimme bei ihrem ersten Ton. »Warum?«, stöhnte er erstickt, als sich zeitgleich seine Blase unter ihm entleerte. Er schämte sich der natürlichen Reaktion, welcher er jedoch nichts entgegensetzen konnte.

      Bardur rümpfte, angewidert des Schauspiels unter sich, die Nase und warf kurz darauf Merins, nach Urin stinkenden, gelähmten Körper über die Schulter. »Das weißt du genau. So nahe dem Ziel können wir uns keinen Fehler erlauben.«

      Der Angesprochene schloss die Lider, während ihm auch schon Tränen in die Augen traten. »Verzeih mir. Ich habe es nicht geschafft«, hauchte er tonlos, als er sich weit ab hinter die Grenzen wünschte, die er mit seinem Blick längst erreicht hatte.

       Kapitel XVI

      Stadt