534 - Band I. Milena Himmerich-Chilla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Milena Himmerich-Chilla
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745083651
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Ein weiteres Mal peitschte der Wind durch den schwer von Moos befallenen, grün schimmernden Wald und trug ein aufkommendes, leises Wispern mit sich.

      »Hast du das gehört?«

      »Ja.«

      »Sollten wir ihm seinen Wunsch erfüllen?«

      »Oh, sieh dir das an.«

      »Tränen stehen ihm in den Augen.«

      »Es muss etwas Wichtiges für ihn in den Bergen liegen.«

      Merin lauschte angestrengt, doch nur schwer konnte er die Stimmen vom stetigen Geheul des Windes trennen, welche sich flüsternd miteinander beratschlagten, doch das Wenige, welches er unter dem Getöse ausmachen konnte, ließ sein Herz schneller schlagen und ihn neue Hoffnung schöpfen.

      Leises Knacken ließ Merin aufschauen und er wusste, dass die Geister des Waldes seiner Bitte nachgegeben hatten. Das Goldgelbe seiner Augen leuchtete, während er fasziniert die schlangengleichen Wurzeln sowie Äste der Büsche und Hecken betrachtete, welche nunmehr genügend Platz geschaffen hatten, dass er mitsamt seines Pferdes hindurch schreiten konnte.

      Überschwänglich drehte er sich zu seinem Reittier um, welches von der plötzlich aufgekommenen, euphorischen Stimmung seines Herren mit nach hinten gedrehten Ohren zurückschreckte. Trotz seiner Skepsis folgte es ruhig dem sanften Zug der Zügel, die Merin eilig losgebunden hatte und nunmehr in seinen Händen lagen.

      Der Magier setzte einen Fuß vor den anderen und lauschte dem erneuten Rascheln hinter sich. Auch ohne hinzusehen wusste er, dass der aufgegangene Pfad sich schloss und erneut zu einer unüberwindbaren Mauer wurde. Stur ging er weiter, das Leder der Zügel in der einen, das Holz seines Stabes in der anderen Hand. Sein Blick lag dabei unbeirrt auf der Bergkette vor sich gerichtet. Es würden noch einige Stunden vergehen, bevor sie Liliths Liegestätte erreicht hatten. Zuvor wollte er einen Abstecher zum nahen Fluss machen und seine Wasservorräte auffüllen. Danach jedoch würde ihn nichts mehr halten können.

      Die Sonne stand bereits am höchsten Punkt, als Merin seinen Hengst vorsichtig an das Flussufer führte und die Zügel um den Knauf des abgenutzten Sattels band. Sanft streichelte er über die zerzauste Mähne seines Tieres, bevor auch er sich dem Ufer zuwandte und dabei, gewohnt auf seinem Stab gestützt, auf die Knie sinken ließ. Die Nässe des feuchten Bodens drang spielend durch seine erdfarbene Stiefelhose, als er das Holz behutsam zur Seite legte, um mit den nunmehr freien Händen in das gurgelnde, klare Wasser einzutauchen und eine mit seinen Fingern geformte, gefüllte Schale, an seine trockenen Lippen zu führen. Das kühle Nass tat gut.

      Wieder tauchte er seine Hände in das Wasser ein und trank gierig. Der Hengst an seiner Seite hatte seinen Durst bereits gestillt und machte sich langsam trabend Richtung angrenzender Wiese auf. Merin war nicht mehr in seinem Fokus, hingegen das saftige Grün der jungen Triebe. Der Magier lächelte versonnen, als er das Hinterteil seines Pferdes betrachtete, welches sich ausgelassen durch das Grün pflügte.

      Es war ein sonniger Tag und die hitzigen Strahlen brannten auf der hellen Haut des Gestaltwandlers.

      Nachdem auch er seinen Durst vollends gestillt und aufgerichtet hatte, trugen ihn seine Füße zurück an die Seite seines Tieres. Jenes hielt, immer noch grasend, seine Ohren in dessen Richtung gedreht. »Keine Sorge, Junge. Wir reiten noch nicht weiter.« Bei den besänftigenden Worten griff er nach den ledernen Trinkflaschen, die er bei Reisebeginn in Paaren zusammengeknotet, über den Rücken des Pferdes gehängt hatte und band diese nun los. Dabei stellte er fest, dass sein Stab ihn bei der Arbeit mehr behinderte als half. So entschloss er sich dazu, jenen wieder der Obhut der Lederriemen zu übergeben.

      Die silberne Kugel glänzte in der Mittagssonne, als Merin den Stab am Sattel befestigt zurückließ, während seine Füße ihn zum Ufer hintrugen. Die Strahlen stachen mittlerweile unangenehm und färbten einige Flächen seiner Haut zart rosa.

      Am Fluss angekommen, beugte er sich herab und tauchte einen Trinkbeutel nach dem nächsten in den vorbeiziehenden Strom ein, bis jene prall gefüllt waren und neben seiner stehenden Gestalt im niedrigen Ufergras ruhten.

      Merin benetzte mit den noch nassen Händen sein Gesicht. Die plötzliche Kühle tat ungemein gut. Dabei schloss er seine Augen, um jenes Gefühl zu intensivieren. Sein, in den letzten Tagen gewachsener, dunkelblonder Bart knirschte, während er mit den schmalen Fingern darüber fuhr. Jenes Geräusch verwob sich mit dem Rascheln der Baumkronen.

      Er hatte mit einem Mal das Gefühl, tiefer als gewöhnlich atmen zu können. Seine Lungen füllte er hierbei mit frischer Luft, während sein Blick sich an den sonnenbeschienenen Wipfeln am Fußende der Bergkette festfraß.

      Es war kühl. Merin hob den kleinen Jutebeutel von seinem Rücken und legte ihn auf den Felsen, der neben ihm stand, ab. Blind kramte er in der rauen, schief genähten Tasche, bis sich seine Hand um einen weichen, stabähnlichen Gegenstand schloss. Behutsam zog er diesen heraus und befühlte ihn mit der anderen Hand.

      Als er sich vergewissert sah, dass die Spitze des Etwas nach oben gedeutet hatte, hob er die schmale, langgezogene Kerze an seine Lippen, wobei er mit der freien Hand dahinter eine Schale geformt hielt. So schloss er seine Augen und blies liebevoll gegen den Docht.

      Die Kerze zischte, als sie sich, belebt vom Atem des Magiers, entzündete und Licht an die Felswände warf.

      Merin, der kurz von der ungewohnten Helligkeit des Raumes seine Augen zu Schlitzen verengt hielt, musste einige Male blinzeln, bis sein Blick an Schärfe zunahm. Erst, als er erkennen konnte, wohin seine Füße ihn tragen würden, huschte er leise über den kühlen Stein und setzte die Kerze an deren angestammten Platz. So zog er weitere Kerzen aus dem, von Flecken durchdrungenen Beutel, belebte jene wieder und platzierte sie in die Halterungen, welche er selbst vor Jahren an den scharfkantigen Steinwänden angebracht hatte.

      Als er nun auch die letzte der Kerzen gesetzt hatte, legte er seinen Blick auf den grob geschlagenen Stein, der im Zentrum stand und den Raum zum größten Teil hin ausfüllte. Erinnerungen durchströmten seinen Geist. Bilder des Tages, an dem er das erste Mal in dieser Höhle gestanden war. Seine Lippen wurden trocken, genau wie auch sein Mund, doch es war kein Durst nach Wasser, der ihn quälte.

      Merin schob seine Füße über den, die Jahre hinweg geschliffenen Boden, hin zu jenem Stein, der Ziel seiner Reise gewesen war. Seine Hände spielten dabei nervös am Saum der dunkelbraunen Weste.

      Angekommen, schlugen seine Zehnspitzen an das von Moos überzogene Granit und beendete seine Reise je. Vorsichtig nahm er die Hände vom Stoff und legte diese behutsam auf den Schiefer, welcher den Deckel des steinernen Sarges formte, ab. Darunter lag sie, noch verborgen vor seinem goldenen Blick, doch dies würde nicht mehr lange wehren.

      Merin hielt in seiner Bewegung inne und überlegte, während sich seine Gedanken überschlugen. Nur noch zehn Tage, dann würde sie ihre Augen endlich aufschlagen, da bedurfte es keines Deckels mehr.

      Bei jenem Gedanken durchströmte ihn eine unbändige Kraft. So legte er seine Handflächen an der Kante des Schiefers ab.

      Das folgende Kreischen des Deckels auf dem Granituntergrund hallte von den kahlen Wänden wider und schaukelte sich ohrenbetäubend auf. Ihm standen bereits kleine Schweißperlen auf der Stirn, als er den Scheitelpunkt der Schwerkraft überschritten hatte und das Gestein auf der gegenüberliegenden Seite herabglitt, um auf dem feuchten Boden zu zerspringen. Merin stützte sich haltsuchend und schnaufend auf dem Rand des Granits ab. Hierbei streichelte sein Blick das bleiche Gesicht vor ihm, welches die Augen geschlossen hielt. Gleich diesem Bild füllten sich seine Augenwinkel mit Tränen.

      In Zeitlupe griff Merin mit zittriger Hand in den nunmehr offenen Sarg und berührte, einem Hauch gleich, die Alabasterhaut ihrer Wange. Sein Herz hämmerte unerbittlich gegen die Brust, dass er nichts Weiteres mehr vernahm, als seinen eigenen Herzschlag. Eine Gänsehaut überzog seine Arme, während die blonden Härchen, die darauf verteilt lagen, sich in die Höhe gereckt hielten. »Meine Liebe«, hauchte er mit solch leiser, tränenerstickter Stimme, dass das gewohnte Echo ausblieb und beide im Zentrum des Momentes alleine ließ.

      Nur schweren Herzens wandte er sich