Die psychischen “Mechanismen” individuellen Wertwandels, der Aneignung von Werten (Rezeption, Interiorisation) und der Verständigung über sie (Kommunikation; Exteriorisation) bilden den entscheidenden Angelpunkt zwischen zwei Disziplinen, die, zu sehr unterschiedlichen Zeiten entstanden, traditionell sehr wenig miteinander zu tun haben: der soziologischen Wertwandelsforschung und der philosophischen Werttheorie, der Wertphilosophie.
Die soziologische Wertwandelsforschung erhielt ihren Anschub aus dem Werteumbruch, der sich in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in nahezu allen wirtschaftlich und politisch entwickelten Ländern vollzog. In diesen Jahren wurde die “Revolution der Werkzeuge” von einer “Revolution der Denkzeuge” abgelöst. Die Computerwelt entstand, und mit ihr neue, auf Selbstentfaltung gerichtete Wertvorstellungen. Die Wertwandelsforschung entwickelte sich unter anderem, weil die traditionelle Wertphilosophie keine einzelwissenschaftlich verwertbaren Lösungen anbot und empirische Analysen kaum förderte, oder zur Kenntnis nahm. Die neue Disziplin untersucht, wie sich Einstellungen, Werturteile, Präferenzen usw. in Gruppen und größeren sozialen Einheiten verändern. Daraus versucht sie Regularitäten und tieferliegende Zusammenhänge zu ermitteln. Allerdings wird man in entsprechenden Arbeiten selten den Versuch finden, psychologisch zu begreifen, wie Werte interiorisiert und kommuniziert werden. [3]
Die philosophische Werttheorie, eigenständig seit der Entwicklung einer Wertphilosophie durch Lotze in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ihrer Weiterentwicklung durch Nietzsche, von Ehrenfels, von Meinong, Münsterberg, Ostwald, Kraft, Husserl, Rickert, Scheler, Messer und viele andere Denker ist Frucht einer Entwicklung, darin der Zeitraum des gesellschaftlichen Wertewandels aufgrund der beschleunigten wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Entwicklung deutlich kürzer als die mittlere durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen wird. Von diesem Punkt an beginnt sich der menschliche Zeithorizont von der Vergangenheit auf die Zukunft zu verlagern. Nicht mehr die abgeschlossene und deshalb gewisse Vergangenheit, sondern eine ungewisse, aber vorgeblich wissenschaftlich zu erschließende Zukunft bildet mehr und mehr den Orientierungsmaßstab für gegenwärtiges Handeln. [4] Je ungewisser die Zukunft, desto lauter wird der Ruf nach neuen Werten. Wertphilosophie ist Krisenphilosophie.
Jenseits von Wertobjektivismus und Wertrelativismus bietet eine genetische Werttheorie heute an, das Werten als grundlegende, in der bio - psycho - sozialen Entwicklung entstandene Potenz zu begreifen, die komplementär zur Aneignung von Wissen im engeren Sinne - und damit unauflöslich zusammenwirkend - das menschliche Handeln überhaupt erst ermöglicht. Sie hält die Notwendigkeit, dass Werte ein Entscheiden und Handeln trotz mangelnder oder fehlender Kenntnisse, unter kognitiver Unsicherheit ermöglichen und fehlende Informationen gleichsam “überbrücken” für den biotischen, psychischen, sozialen Normalfall. Sie analysiert, wie im Laufe der bio - psycho - sozialen Entwicklung immer neue, eng zusammenwirkende Formen des Wertens entstehen und via Überformung, Überschichtung und Parallelentwicklung miteinander zusammenhängen. [5]
Im Bereich der Verhaltensbiologie lässt sich die Entwicklung des Wertungsvermögens bis hin zu moral- und politikanalogem Verhalten verfolgen. [6] Im Bereich des Psychischen kann man der phylogenetischen, ontogenetischen und aktualgenetischen Entwicklung von Emotionen und Motivationen als den wichtigsten Wertungsinstanzen des konkreten Individuums nachspüren. [7] Insbesondere Luc Ciompis integratives psycho-sozio-biologisches Modell einer Affektlogik zeichnet bis heute vielleicht am eindruckvollsten die getrennt-untrennbare Wechselwirkung von wertend qualifizierendem Emotionssystem und quantifizierendem Kognitionssystem, komplementär zueinander wirkend, nach. [8] Im Bereich des Sozialen ließe sich eine Entwicklungsgeschichte des menschlichen Wertens und der entsprechenden sozial organisierenden Wertungen - etwa ästhetischer, religiöser, ethischer, politischer Werte und Wertsysteme - entwerfen. Wertentwicklung ist darin - wie jeder als Selbstorganisation beschreibbare Entwicklungsprozess [9] - zur Zukunft hin offen und kontingent; Menschen besitzen erhebliche Freiheitsgrade, ihre Werte selbst zu setzen, bis hin zum eigenen Untergang. Künftige Werte lassen sich deshalb prinzipiell nicht voraussehen und vorhersagen. Andererseits lassen sich, rückwärts betrachtet, immer objektive historische, ökonomische, soziale und geistige Determinanten der Wertentwicklung finden. Eine solche Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft gilt für alle als Selbstorganisation beschreibbaren Entwicklungsprozesse.
Gehirnforscher postulieren ein eigenes emotionales Gedächtnis, wonach emotional-motivationale Wertungen im Thalamus34 und der Amygdala 35 gespeichert werden. Tiefer betrachtet, ist das eine der aufregendsten und für unsere Fragestellung wichtigsten Beobachtungen, die Friedhart Klix in einem Abschnitt seines „Erwachenden Denkens“ unter der Überschrift „Die Bewertungsfunktion tiefliegender Hirnstrukturen und die motivationale Basis kognitiver und kommunikativer Prozesse“ genauer beschreibt. Zunächst stellt er fest, dass das limbische System (u.a. Septum [10] , Amygdala, Hippocampus [11] ), seine Struktur und seine Verbindungen von den primitivsten bis zu den höchsten Säugern einschließlich des Menschen kaum verändert hat.
Die Funktion dieses Systems ist immer die eines Bewertungssystems für die sensorische Information, für die Entscheidungsbildung wie für die Passung der Verhaltensprogramme. Seine neue Qualität beim Menschen erreicht es nicht durch Veränderung; sondern durch die Wechselwirkung mit den sich neu bildenden, höchsten, zentralnervösen Abschnitten, insbesondere mit dem Frontalhirn (Wahrnehmung, sprachliche Repräsentation, höhere kognitive Prozesse, Ich- und Selbst-Funktion). Die in diesen Regionen stattfindenden neuronalen Prozesse werden in oder durch das limbische System geleitet, das selbst auf die Aktivitäten dieser Prozesse zurückwirkt. Erreichte Handlungsziele erhalten dadurch ihre positive, nicht erreichte ihre negative emotionale Bewertung. Der eigentlich bewegende Auslöser für Verhalten und Handeln ist jedoch nicht diese emotionale Bewertung, sondern die Möglichkeit einer Veränderung dieser Bewertung zum positiven Pol hin. Klix spricht vom hedonalgischen Differenzial, das als Auslöser eine Motivation durch Registrierung einer Unlust – Lust – Differenz und einer Verschiebung zum positiven Pol hin stimuliert. Das hedonalgische Differenzial ist von außerordentlicher Motivationskraft. „Kognitive Prozesse sind ohne die affektive Komponente der Motivation kraftlos; und die Dynamik des Affekts ist ohne kognitive Richtung blind.“ [12]
In ihrem Zusammenwirken werden Informationsaktivierung und –bewertung und Handlungsmotivation „auf einer Skala affektiver Gewichtung abgebildet, einer Gewichtung, die mit ihrer Veränderung die Wahrnehmungs- und Handlungsdynamik stimuliert, und die mit dieser Bewertung das bedeutsamste Bindeglied zwischen Informationsafnahme und Verhaltenseinstellung beeinflusst, nämlich die Entscheidungsbildung.“ [13]
Abb. 5 Prozess der Entscheidungsbildung
Klix Resüme ist für unser Thema ebenso unumstößlich wie fundamental: „Damit sind einige Beziehungen von emotional – motivationalen und kognitiven Komponenten der Verhaltensorganisation dargelegt. Das ebenso Wesentliche wie Erstaunliche besteht in folgendem: Wir haben es mit einem verhältnismäßig wenig differenzierungsfähigen System