Status Quo. Thorsten Reichert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thorsten Reichert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847618287
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dass er nicht um die Dinge herumredete oder sich um Unwesentliches kümmerte. Er wollte Fakten, nichts weiter. Und er wusste, wann eine Spur heiß oder kalt war. Diese Spur, diese Sache mit der NSA, sie war keine heiße Spur, sie war ein Übel, das abgearbeitet werden musste. Je emotionsloser, desto besser. Sie war die perfekte Wahl für diesen Job.

      „Ich glaube, wir verstehen uns, Herr Mayer. Wann kann ich mit der Sichtung der Daten beginnen?“

      Mayer lehnte sich entspannt zurück und lachte.

      „Genau so hatte ich es erwartet, Frau Wohlfahrt. Sie können es gar nicht schnell genug hinter sich bringen. Aber passen sie auf, dass sie nicht in dem Durcheinander verloren gehen. Die Amis haben uns fast eintausend Gigabyte geschickt, und zwar nicht etwa schön sortiert als Datenbank mit Suchfunktion und so. Sie könnten Jahre damit zubringen, das Chaos in eine sinnvolle Struktur zu bringen. Zum Glück ist das nicht notwendig. Wir haben die Aufgabe gesplittet und beziehen die LKAs mit ein. Sie können sich vorstellen, dass die Mehrheit der Daten von Bundes- oder Landesregierungen stammt. Die NSA hatte schließlich besseres zu tun als Otto-Normalverbraucher zu bespitzeln oder Facebook-Profile von Max Mustermann zu durchforsten. Die haben unsere Regierungen und Abgeordneten abgehört. Also haben wir die Daten vervielfältigt und den zuständigen LKAs zukommen lassen. Ich habe denen drei Wochen Zeit gegeben, ihre jeweiligen Daten zu sichten und uns zurückzusenden. Die sollen sich nur einen groben Überblick verschaffen, wer bei ihnen in welchem Umfang abgehört wurde.“

      „Drei Wochen? Mehr als einen sehr groben Überblick werden die da nicht bekommen“, unterbrach die Mitarbeiterin ihren Chef. „Man dürfte mindestens eine Woche benötigen, um überhaupt mit der Struktur solcher Daten zurecht zu kommen.“

      „Gute Einschätzung, Frau Wohlfahrt.“ Mayer nickte zufrieden. „Das heißt, wir geben den LKAs nicht genug Zeit, um irgendwelche selbsternannten Whistleblower auf eine Rambo-Idee zu bringen. Die sollen das Buch nicht besprechen sondern quer lesen. Wir wollen von denen keine Literaturkritik, nur eine Zurkenntnisnahme.“

      Wohlfahrt erhob sich von ihrem Stuhl. „Das heißt, in drei Wochen kann ich mich wieder meinen heiß geliebten Luxusschlitten widmen?“ Ein verschmitztes Lächeln umspielte ihren Mund, eine weitere Bestätigung für Mayer, dass er die Richtige für diesen Job ausgewählt hatte.

      „Drei Wochen, Frau Wohlfahrt, und sie werden sich für ganz andere Aufgaben empfohlen haben. Ich vertraue ihnen in der Sache. Machen sie alles richtig, und die Zukunft gehört ihnen.“

      YES!

      Mit einem kribbelnden Glücksgefühl wandte sie sich zur Tür. „Die Zukunft gehört ihnen“, aber hallo, und wie sie ihr gehören würde!

      „Haben sie nicht was vergessen?“

      Überrascht drehte sie sich zu Mayer um. Er hielt eine Festplatte in der Hand.

      „Sie glauben doch nicht etwa, dass solche Sachen auf dem Postweg verschickt werden?“, lachte Mayer, während er die Festplatte in seiner Hand wiegte. Sie griff danach und hielt das Metallding für einen Moment nachdenklich in ihren Händen. Ihr Chef schien ihre Gedanken zu ahnen.

      „Ein halbes Jahrhundert Geheimdienstarbeit passt heutzutage auf eine Festplatte. Ist das nicht gespenstisch?“

      Sie zuckte mit den Schultern. „Gespenstisch nicht – eher enttäuschend. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ganze Serverräume mit diesen Daten gefüllt wären, dabei ist es nur eine ein-Terabyte-Festplatte.“

      „Urteilen sie nicht zu vorschnell, Frau Wohlfahrt. Sie werden wenig Freude an dem Chaos haben, das sich in dem Ding da verbirgt.“

      Wieder zuckte sie mit den Schultern und ging zur Tür.

      „Eines noch, Frau Wohlfahrt.“

      Noch einmal drehte sie sich um und sah ihren Chef an.

      „Je weniger Leute von ihrem neuen Job wissen, desto besser.“ Er blickte sie auf eine Weise an, die sie von ihm nicht kannte. Es lag ein gewisser Ernst darin, fast hätte sie es als eine Drohung auffassen können. Ohne den Blick von ihr zu nehmen, ergänzte er:

      „Das meine ich nicht nur in Bezug auf Leute außerhalb dieses Gebäudes sondern auch innerhalb.“

      Sie hielt ihre rechte Hand zum militärischen Gruß an die Schläfe und erwiderte lächelnd:

      „Alles roger. Over. Piep!“

       Spiegel-Redaktion, Hamburg, Montag 9.32 Uhr

      „Was haben wir?“

      Streitmeier blickte erwartungsvoll in die Runde der anwesenden Redakteure. Hajo Streitmeier, 56 Jahre, Chefredakteur eines der auflagenstärksten Magazine Europas, passionierter Golfer und Oldtimer-Liebhaber, Workaholic und dennoch ein liebenswerter und für alle großen und kleinen journalistischen Probleme offener Chef. Er hatte sein Redaktionsteam fest im Griff, hatte nicht einen einzigen Skandal in seiner inzwischen fast zehnjährigen Zeit als Chefredakteur zugelassen – bei einem explosiven Medium wie dem Spiegel eine bemerkenswerte Leistung – und verfolgte den Leitspruch: „Setz den Leuten nur das vor, was sie auch verdauen können.“ Kritiker behaupteten, der Spiegel habe unter seiner Leitung die Schärfe früherer Jahre verloren, was sich nicht zuletzt in dem erstaunlich guten Verhältnis zwischen der Chefredaktion und der Bundesregierung widerspiegelte. Von wegen nomen est omen – Hajo Streitmeier war ein Revoluzzer der 80er Jahre. Er hatte in seiner Jugend nicht gegen die Alten aufbegehrt, nicht gegen Vietnam und veraltete Traditionen auf der Straße gestanden, seine Revolutionen gingen nach innen. Selbsterkenntnis statt politische Demonstration, Gender-Diskussion statt Flowerpower. So war er ohne viel anzuecken weit gekommen, hatte nicht seine Streitfähigkeit sondern seine journalistischen Fähigkeiten für sich sprechen lassen. Seit einer Dekade leitete er das zweiteinflussreichste Printmedium Deutschlands, ohne Kanten vielleicht, aber dafür mit Niveau. Die Auflage stimmte, selbst im digitalen Zeitalter. Journalistische Qualität setzt sich durch, das wusste Streitmeier, und was er hier versammelt sah, das war journalistische Qualität allererster Klasse.

      „Israel“ - „EU-Abgasnorm“ - „Filmpreis“ - „Elbphilharmonie“

      Den Stichworten seiner Redakteure gab Streitmeier jeweils ein zufriedenes Nicken zur Antwort. Jeder hier am Tisch wusste, was er oder sie zu tun hatte. Er mischte sich nur ein, wenn er Kritik an Fragen der Qualität, Objektivität oder Arbeitseffizienz hatte. Letzteres machte ihm zuletzt häufiger bei seiner „Patientin“ Junkermann zu schaffen. Sie war als nächste an der Reihe und warf ihm anstatt eines Stichwortes einen gequälten Blick zu.

      „Barschel?“ fragte er in ihre Richtung. Einige Kollegen konnten sich ein nett gemeintes Lachen nicht verkneifen. Jeder wusste, dass sie mal wieder die Arschkarte gezogen hatte. Als die Kieler Staatsanwaltschaft aufgrund eines aufgetauchten Haares in den Barschel-Akten den Fall von 1987 wieder aufrollen wollte, dachten alle, dass jetzt endlich die Lösung dieses verschlungenen politischen Rätsels bevor stehen würde. Beim Spiegel gab es gleich mehrere Redakteure, die sich für den Fall interessierten. Streitmeier gab ihn an keinen von ihnen. Er vertraute ihn seiner Lieblingsredakteurin Grit Junkermann an. Nicht weil er sie bevorzugen wollte, sondern weil er wusste, dass sie nicht im Dreck wühlen und einen neuen Skandal herauf beschwören würde, wie es vielleicht der eine oder andere testosterongesteuerte Kollege gern tun würde. Doch nach wenigen Wochen war klar, dass die causa Barschel so tot war wie Barschel selbst. Junkermann arbeitete mit halbem Auge daran, während sie etliche kleinere Recherchen abarbeitete. Unterm Strich führte das dazu, dass sie seit Monaten nichts Konkretes auf die Beine gestellt hatte. Während ihre Kollegen in der Runde so manchen Wirtschaftsboss in Erklärungsnot, diverse Missstände des Sozialstaats aufgedeckt oder Steuersünder ins Schwitzen gebracht hatten, waren von ihr gerademal ein paar kurze Artikel „unter ferner liefen“ erschienen.

      „Barschel? Ist tot.“ antwortete sie ihrem Chef schließlich so knapp wie trocken. Die Lacher waren jedenfalls auf ihrer Seite.

      „Ehrlich, Cheffe, da geht nix. Niemand weiß nichts, und das weiß jeder. Solange wir nicht irgendwoher einen Kandidaten herzaubern können, der zu dieser vermeintlichen DNA-Spur passt, wird aus der Sache nichts werden.“