Thorsten Reichert
Status Quo
Spionagethriller
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Tag 1
ARD Tagesschau, Samstag, 20.04 Uhr
„Berlin. Nach zähen Verhandlungen wurde gestern Abend das Freihandelsabkommen zwischen zahlreichen Europäischen Ländern und den nordamerikanischen Staaten USA und Kanada unterzeichnet. Es schafft eine Freihandelszone, durch welche eine bessere wirtschaftliche Kooperation zwischen den Partnern möglich werden soll. Kritiker bemängeln die fehlende Transparenz des Abkommens und wiesen darauf hin, dass große Teile des Abkommens von Lobby-Vertretern aus Wirtschaft und Industrie verfasst und damit nicht in demokratischen Entscheidungsprozessen entwickelt worden seien. Sie sehen darin einen Sieg der Lobbyisten über die Politik. Die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens war zuvor mehrmals verschoben worden, unter anderem wegen der NSA-Affäre 2013. Zuletzt hatte Bundeskanzlerin Merkel eingelenkt, nachdem der amerikanische Nachrichtendienst NSA weitreichenden Einblick in seine in Deutschland gesammelten Abhördaten zugesagt hatte. Die Kanzlerin betonte, es gebe keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Freihandelsabkommen und dem Offenlegen der Abhördaten. Die zwischen den Jahren 1954 und 2010 gesammelten Daten abgefangener Telefonate, Briefe und Emails aus Deutschland werden in den kommenden Wochen dem Bundeskriminalamt zur Einsicht zur Verfügung gestellt. Regierungssprecher Seibert betonte, hiermit sei die NSA-Affäre endgültig abgeschlossen und das deutsch-amerikanische Verhältnis aufs beste wiederhergestellt.“
Bundeskriminalamt, Wiesbaden, Montag 8.17 Uhr
„Frau Wohlfahrt, kommen sie bitte mal rein und setzen sich.“
Francesco Mayer, langjähriger Mitarbeiter des BKA, Abteilung „Interne Ermittlungen“, saß hinter seinem für BKA-Verhältnisse erstaunlich aufgeräumten Schreibtisch und lehnte sich in seinem Bürosessel zurück. Er sah zu, wie seine Mitarbeiterin die Türe schloss und sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch setzte. Stefanie Wohlfahrt, 32 Jahre alt, blond, attraktiv, zielorientiert. Sie hatte sich nach Abschluss ihres Studiums im Zeitraum von zweieinhalb Jahren bereits zweimal innerhalb des BKA hochgearbeitet, war nun leitende Angestellte und führte in erster Linie Ermittlungskooperationen zwischen BKA und diversen Landeskriminalämtern. Mayer mochte sie, weil er einen Ehrgeiz in ihr sah, der ihm imponierte. Sie könnte es mit ihrem Aussehen auf viel einfachere Weise schaffen, aber sie ließ lieber Taten sprechen. Solche Leute brauchten sie beim BKA.
„Frau Wohlfahrt, woran arbeiten sie gerade?“
„Ich bin gerade gemeinsam mit dem LKA Brandenburg an dieser Schieberbande dran, aber wir kommen leider nach wie vor nicht an die Kontaktleute in Polen ran.“
Sie gab bereitwillig Auskunft. Man hatte keine Geheimnisse beim BKA, auch nicht vor dem Chef, sie wusste und schätzte das. Lügen und Rumdrucksen war nie ihre Sache gewesen. Wenn sie etwas konnte oder wusste, dann sagte sie es, und wenn sie einen Fehler gemacht hatte, dann gab sie ihn unumwunden zu. Mayer war informiert darüber, dass es in der Sache seit längerem nicht voran ging. Es verschwanden immer wieder teure Luxusautos made in Germany in Richtung Polen, aber niemand wusste genau, auf welchem Wege und mit welchem Ziel. Es gab ein paar Informanten diesseits und jenseits der Grenze, aber auf die war wenig Verlass, wie sich im Laufe der Ermittlungen zeigte.
„Kann ich sie von der Sache abziehen?“
Mayer unterbrach ihre Gedanken und verwirrte sie für einen Augenblick.
„Herr Mayer, sie wissen ja wie das ist...“
Er lachte.
„Frau Wohlfahrt, machen sie sich keine Sorgen, ich nehme ihnen den Fall nicht weg, ich habe nur eine wichtigere Sache für sie, die sie in den kommenden Wochen betreuen sollen. Danach können sie sich gern wieder ihrer Schieberbande widmen.“
Ihr Gesichtsausdruck entspannte sich, er hatte wieder ihre volle Aufmerksamkeit.
„Sie wissen ja, dass die NSA uns freundlicherweise Einblick in sechzig Jahre Mithörpraxis gegeben hat. Ja, zu gütig, nicht wahr?“ Er lachte, der Sarkasmus in seiner Stimme war unüberhörbar.
„Die Daten sind Ende letzter Woche hier eingetroffen. Es handelt sich um eine Festplatte mit knapp einem Terabyte Daten. Eingescannte Briefe, Emails, kopierte Akten, mitgeschnittene Telefonate und sonstige Aufnahmen, von denen wir keine Ahnung haben, wie die NSA dazu gekommen ist. Ehrlich gesagt sollte uns das auch egal sein. Wir haben weder die Manpower noch die Aufgabe, sämtliche Daten aufzuarbeiten und nach kriminellen Machenschaften zu suchen. Das Ziel dieser Dateneinsicht ist nicht, unsere amerikanischen Freunde auf die Anklagebank zu bringen, sondern uns einen groben Überblick über das zu schaffen, was wir seit Jahrzehnten vermuten und seit Jahren mit Gewissheit wissen. Wir wurden von der NSA konsequent ausgehorcht, das machen wir mit zwei Dutzend europäischen Ländern ganz genauso. Je weniger wir darüber reden, desto kleiner ist die Gefahr, dass sensibles Wissen an Leute gerät, die es nicht für sich behalten können.“
Sein eindringlicher Blick verriet, dass er einen ganz konkreten Mann vor Augen hatte, der die ganze NSA-Geschichte seinerzeit ins Rollen gebracht hatte. Edward Snowden, der „Whistleblower“, Ex-Mitarbeiter der NSA, hatte sich mit einer ziemlichen Menge sensibler Daten im Gepäck aus den USA abgesetzt und mit dem Ausplaudern seiner NSA-Kenntnisse sowohl seinen ehemaligen Arbeitgeber als auch die Vereinigten Staaten an sich in eine ernsthafte diplomatische Krise gestürzt. Stefanie Wohlfahrt hatte sein Verhalten im Gegensatz zu einigen ihrer Kollegen aufs Schärfste verurteilt. „Was geheim ist, muss geheim bleiben“, war ihr Motto, nach dem sie ihr Privatleben ebenso wie ihren Beruf gestaltete. Nicht zuletzt deshalb hatte sie es in kürzester Zeit an den Punkt geschafft, an dem sie jetzt stand: Sie sollte die Daten eines der größten Abhörskandale aller Zeiten sichten. Das war keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für übermotivierte Mitarbeiterinnen, das war ihre Chance, mehrere Karrierestufen auf einmal zu nehmen. Wenn sie jetzt alles richtig machte, dann würde sie vielleicht nicht weltberühmt wie Mister Snowden werden, aber dann wäre ihre Karriere innerhalb des BKA zumindest für die nächsten Jahre gesichert.
„Sie verstehen, was ich meine.“ Ihr Chef beugte sich in seinem Stuhl nach vorn und blickte sie an. „Wir haben hier eine Aufgabe. Die besteht darin, keinen weiteren Offenbarungsjournalismus zu betreiben. Sie besteht darin, zu akzeptieren, was nicht zu ändern ist: dass jeder Staat dieser Welt seine Freunde ebenso wie seine Feinde bespitzelt. Und sie besteht darin, diesen riesigen Berg an Daten zu strukturieren und dann für immer in unseren Archiven