Der Score. Leo Abt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leo Abt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742774736
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sich gegenseitig fördert und fordert, indem sie eine Atmosphäre starken Zusammenhalts schafft. Können Sie mir folgen?«

      »Überhaupt nicht. Was hat das alles mit Lisa zu tun?«

      Dem Schulleiter entfuhr ein schwerer Seufzer. »Nach Durchsicht ihres Score sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass - ich rede vor allem von der F-Reihe, den psychischen ... also dass ihre Kompetenz auf diesen Gebieten nicht ganz unseren Vorstellungen entspricht.«

      »Lisa ist fünf, was reden Sie denn da bloß?« rief Schönherr. Ärger köchelte in ihm, der die leidenschaftlichen, gewinnenden Sätze, die er sich fest vorgenommen hatte, ganz und gar außer Reichweite rückte.

      Der Selbstmord des Vaters, die Probleme der Mutter, das Gerichtsverfahren um die Vormundschaft - was Lisa in so jungen Jahren schon alles zugestoßen war, konnte nach statistischen Maßstäben nicht folgenlos bleiben. Das wusste Schönherr, und er wusste auch, dass er selbst nicht ganz schuldlos an ihrem desolaten Score war. Er hatte noch immer keinen Termin für eine psychologische Grunduntersuchung für sie gemacht. Und so blieb ihm vorerst nichts anderes übrig, als den demütigen Bittsteller zu mimen, so gut er eben konnte, tapfer auf ein Talent bauend, das zu entwickeln er in seinem Leben kaum Gelegenheit gehabt hatte.

      Nach einem kurzen Moment, den Hoffmann brauchte, um ein feierliches Hoch und Tief in seine Stimme zu legen, sagte er: »Lieber Doktor Schönherr, ich mache Ihnen einen Vorschlag zur Güte. Ich möchte gern Herrn Thiel zu uns bitten. Samuel Thiel ist Sozialinformatiker an unserer Akademie und Leiter der Score-Abteilung. Er wird Ihnen viel besser als ich erklären können, warum wir glauben, dass die Schlossberg nicht die richtige Schule für Lisa ist. Sie können davon ausgehen, dass wir uns die Entscheidung nicht leicht gemacht haben, denn Lisa ist ja ein ganz fabelhaf-tes-Mäd-chen.«

      Während Hoffmann wie ein alter Mann aus dem Sessel wippte, bekam seine Stimme jene gepresste Färbung, die gewöhnlich mit einer körperlichen Anstrengung einhergeht. Dann steckte er den Kopf durch die Tür zum Vorzimmer, um Frau Schäfer Anweisungen zu geben, doch nachdem er sich wieder zu Schönherr gesetzt hatte, wusste keiner von beiden, wie sie die Wartezeit bis zum Eintreffen Thiels überbrücken sollten.

      Anzeichen von Nervosität bei Hoffmann erinnerten Schönherr an ein Phänomen, das er besonders ausgeprägt bei seinen Richterkollegen beobachtet hatte, wenn er sie zum Beispiel in kurzen Hosen und viel zu engen T-Shirts auf dem Tenniscourt erleben musste. Wie sie dort zu kleinen wütenden Jungs werden konnten, ihre Schläger am Netzpfosten zertrümmerten ... Der Robe, diesem feierlichen, alles kaschierenden Umhang, war plötzlich ein praktischer Nutzen zugekommen, für die würdevollen Momente im Gerichtssaal, für das Urteil im Namen des Volkes. Dabei waren ihre krummen käsigen Körper und ihre gewöhnliche Reizbarkeit in den unwichtigen Dingen viel besser geeignet, eine gewisse Volksnähe zu betonen.

      Und Schönherr? Nach dem Studium hatte er nach und nach gelernt, zuerst in der Staatsanwaltschaft, dann am Gericht, wie man sich kompliziert verhielt, das Anschauliche aus einem Vortrag entfernte und dadurch zu einer Autorität wuchs, der man nicht widersprach. Er hatte nie Probleme gehabt, wie ein gequälter Intellektueller zu tun, den die zusammengeschnürte Krawatte daran zu hindern schien, einfache Hauptsätze auszuspucken. Aber während Leute wie Hoffmann zweifellos schon immer wie ihre Eltern ausgesehen und geredet haben, war Schönherr sein Leben lang überzeugt gewesen, nur so zu tun. Um nicht aufzufliegen. Wenn er wollte, konnte er jene Schmidt'sche Ernsthaftigkeit vortäuschen, die gewöhnlich kaum Widerworte zuließ und ihn vor allzu intimen Offenbarungen Fremder schützte. Er konnte schwer ausatmen, mit und ohne Zigarettenqualm, eine bedeutungsvolle Pause machen und die Antwort auf eine beliebige Frage geben: »Einstweilen, im Prinzip, ja/nein.«

      Bis er eines Tages so sehr an seiner frostigen Verkleidung hing, dass sogar Micha, die er zweimal geheiratet hatte, darauf hereinfiel und ihn verließ. Erst einmal, dann noch einmal.

      *****

      »Herr Thiel, ich möchte Ihnen Doktor Schönherr vorstellen«, sagte Hoffmann. »Doktor Schönherr hat uns besucht, um mehr darüber zu erfahren, wie seine Tochter Lisa ...«

      »Nichte«, fiel ihm Schönherr ins Wort.

      »Bitte?«

      »Meine Nichte Lisa.«

      »Ach so?«

      Thiel gab Schönherr die Hand und warf sein Tablet wie einen Bierdeckel auf den Knabbertisch. Auf Schönherr wirkte der Score-Experte vom ersten Augenblick an wie eines dieser genormten McKinsey-Kids, die sogar in unserer freundlichen Nahdystopie ihre Alukoffer über die Spiegelböden der Flughäfen rollen und mit fünfundzwanzig das Doppelte ihrer Altersgenossen verdienen dürfen. Thiel folgte den Weisungen des Schulleiters mit jener aufreizenden Gelassenheit, die sich leistet, wer in Gedanken schon die nächste Karrierestufe erklommen hat.

      »Was wollen Sie wissen«, sagte Thiel, fiel in den Sessel, in dem zuvor Hoffmann gesessen hatte, und fingerte auf seinem Tablet herum, während er mit halbem Ohr darauf zu warten schien, dass man ihm den Grund für die Belästigung erklärte.

      Weil Schönherr fest entschlossen war schweigend durchzuhalten, bis Thiel ihm auch die andere Hälfte seiner Aufmerksamkeit schenkte, kam ihm der Schulleiter zuvor: »Doktor Schönherr und seine Nichte Lisa haben sich um einen Platz für das kommende Schuljahr beworben. Leider waren wir gezwungen, eine schmerzhafte Entscheidung zu treffen, weil uns aus gegebenem Anlass die Hände gebunden sind. Herr Thiel, vielleicht können Sie uns kurz die Begleitumstände schildern, die uns gewissermaßen -«

      »Klar, kein Thema«, sagte Thiel und klang dabei so euphorisch, wie jemand, der seinen Schwiegereltern verspricht, irgendwann in ferner Zukunft den Keller zu entrümpeln.

      Thiel tat noch einen Moment beschäftigt, während Schönherr und Hoffmann etwas ratlos um den Knabbertisch standen.

      »Wie war nochmal der Name der Tochter?«

      »Bitte nicht«, murmelte Schönherr und setzte sich. »Ihr Name war Lisa Schönherr. Meines Wissens ist er es noch immer.«

      »Wie?« Thiel schaute irritiert in die Runde, während er den Zeigefinger zur Markierung einer Textstelle auf dem Tablet behielt.

      »Lisa Schönherr, so heißt sie.«

      Der Schulleiter beugte sich zu seinem Gast herunter, hielt die Hand wie eine Lärmschutzwand neben den Mund und flüsterte: »Haben Sie nicht gesagt, Lisa sei Ihre Nichte?«

      »Ja, genau«, erwiderte Schönherr für alle hörbar. »Aber unser Junior scheint mir nicht ganz bei der Sache zu sein.«

      »Ich kann auch wieder gehen«, sagte Thiel trocken.

      »Nein, nein, schon gut«, beeilte sich Hoffmann zu deeskalieren. »Beginnen Sie bitte einfach, sobald Sie -«

      In diesem Moment erschien ein Foto Lisas auf dem Schirm, außerdem Name, Alter und Herkunft.

      »Okay«, sagte Thiel. »Ich habe hier Lisas Profil. Was ich sehe, ist, dass die F-Reihe insgesamt einige krasse PRs offenbart.«

      »Persönlichkeitsrisiken«, flüsterte Hoffmann und setzte sich.

      Der Zeigefinger des Sozialinformatikers flog derweil über das Tablet, als wollte er ein Rad zum Drehen bringen, dann sprach er wie zu sich selbst: »Die statistische Validität von F2 und F4 bis F12 ist völlig in Ordnung, Signifikanz deutet auf ordentliche Impacts hin.« Plötzlich schaute Thiel von seinem Tablet auf. »Hat Lisa etwa nie eine PGU bekommen?«

      »Sie meinen, eine psychologische Grunduntersuchung? Nein, noch nicht.«

      »Keine regelmäßige Vorsorge? RPV?«

      Schönherr schüttelte den Kopf.

      »Sie besucht die Kita am Shillerpark?«

      Nicken.

      »Vater Suizid, Mutter Psychiatrie?«

      Nicken.

      »Mhm, das ist natürlich so eine Sache.« Fast schwang etwas Mitleid in Thiels Stimme mit, zumindest aber ehrliche Verblüffung.

      »Wie meinen Sie das?«