Unter seinen schwarzen Schwingen sah ich die Welt, wie sie seit jeher gewesen war und wie sie immer sein würde. Ich sah die Menschen, gefangen in ihrem ewig wiederkehrenden Kreis aus Geburt und Tod, sah ihre vergeblichen Mühen und ihre sterbenden Träume. Hoffnung und Verzweiflung gingen Hand in Hand, wechselten nur durch eine Geste des Gehörnten binnen Augenblicken ihre Gestalt und tarnten sich gegenseitig hinter der anmutigen Maske eines süßen Versprechens. Kleine Glücke, bei denen Trauer und Reue Pate standen.
Doch in dieser Nacht mit ihren wechselnden Farben zeigte mir der dunkle Verführer neben dem Leid auch die irdischen Schönheiten in ihren unendlichen Facetten und versöhnte mich dadurch mit meiner Angst. Die Welt wurde bunter, als sie es je zuvor gewesen war.
Wir stürmten mit dem Schneegestöber, ritten durch zerberstende Sterne, galoppierten über glühende Sonnenaufgänge, nur um schließlich durch zwielichtige Spelunken, prunkvolle Schlösser und schwülstige Freudenhäuser zu tanzen.
Einem wütenden Kometen gleich, zogen wir einen hell lodernden Schweif hinter uns her, in dessen Sog aus Versuchung sich die Huren, Mörder und all die bigotten Heuchler in ihren Eitelkeiten verfingen, ehe ihr Jauchzen erlosch.
Hier wurde getanzt, dort wurde geschändet. Wurde hier gevögelt, so wurde nebenan gestorben. Alles zugleich. Und manchmal gar zur selben Zeit, am selben Ort.
Alldieweil spürte ich das Muskelspiel seiner kräftigen Schulterblätter, roch ich seine strotzende Männlichkeit und sog ihren herben Duft tief in mich ein. Ich war so aufgeregt! Mein kleines Herz raste wie wild, als wir Richtung Himmel schossen und ich seinem tiefen Lachen lauschte.
»Was möchtest du haben?«, rief er mir über die Schulter zu. »Schau dich nur um! Es gehört alles dir! Was auch immer du dir wünscht, ich werde es dir schenken.«
Ich wusste noch nicht, dass ein Neugeborenes keine Worte kennt. Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch lediglich ein seliges Glucksen kam über meine Lippen.
Der Gehörnte schwieg. Wir standen weit über der Erde in der Luft, und in den Wolken rings um uns herum knisterten die Blitze. »Aha«, sagte er nach einer Weile. »Das wird schwierig werden.«
Dann legte er die Flügel eng an seinen Körper, und im Sturzflug fielen wir scheinbar haltlos zurück zur Erde.
Alles, was ich wollte ...
War das gut? War das schlimm? War das Übel, das ich ahnte, die eigentliche Essenz von allem?
Als der Knallkörper explodierte und meinem Vater die Hand abriss, entfachte das Höllenlicht aus Schwefel und Salpeter ein funkelndes Bengalo in allen Ecken meines weiten Universums. Von überall rieselten glühende Schnuppen auf Laken, Vorhänge und Teppiche, und über goldenen Funken stiegen feine weiße Rauchfähnchen auf. Die fette Hebamme ließ mich fallen, der fette Arzt, dieser Tölpel, zuckte zusammen und trat mich zur Seite. Durch eine Lache aus Fruchtwasser glitt ich über den Boden, die Türe zum Korridor öffnete sich und eines der Mädchen, das heißes Wasser hatte bringen wollen, bückte sich mit der Absicht, mich hochzuheben. Der Arzt stieß sie zur Seite und stürzte aus dem Zimmer. Das heiße Wasser ergoss sich über mich, die Blechwanne fiel herunter und begrub mich unter sich.
Auf dem Treppenabsatz gab es ein hysterisches Gerangel, als die wogenden Massen der Hebamme sich einer biblischen Flut gleich an dem Mädchen und dem Arzt vorbeizudrängen versuchten; allen dreien im Nacken das Schmerzgebrüll meines betrunkenen, Blut verspritzenden Vaters.
»Ada!«, schrie er in die leuchtende Nacht. »Ada!« und immer wieder »Ada!«, während meine schöne Mutter im Kindbett bei lebendigem Leib verbrannte.
So fiel in jener Neujahrsnacht das Stadthaus meiner Vorväter in Schutt und Asche. Der Rauch trug glimmende Teilchen mit sich, und neben dem Haus brannte alsbald der Schuppen, loderten die Stallungen und verglühte das Gewürzlager, das bis unter die Decke mit Leinensäcken und Holzfässern voller kostbarer getrockneter Kräuter, Samen, Körner und Wurzeln gefüllt war.
Als es in den Morgenstunden zu schneien begann, hatte sich das Vermögen meines Vaters in Luft aufgelöst.
Am nächsten Tag fand man mich schreiend, aber nahezu unversehrt in der Asche, geschützt durch die umgestülpte Blechwanne, die mit einer feinen Schicht Neuschnee bedeckt war. Es sei ein Wunder Gottes, murmelten die Leute, dass ich den Brand überlebt hatte. Doch ich wusste, dass, als das Chaos über mich herein brach, nicht Gott, sondern jemand anderes meine Hand gehalten hatte.
Heute noch wache ich in mondhellen Nächten auf, wenn der Wind heult und das Laub in den Bäumen zum Rascheln bringt, dass es klingt wie knisternde Flammen und trauere. Dann ist mir (wie kann das sein?), als stiegen mir die Gerüche von gerösteter Senfsaat, verkohltem Zimt, schwarzem Salbei und frischem Schnee hinter die Stirn, um sich dort mit meinem kalten Albschweiß zum Elixier der Stunde meiner Geburt zu vermengen. Über allem hängt schwer das schwefelige Bouquet eines ewigen Kummers.
Und ich höre meiner Mutter Weinen.
Für all dies gab mein Vater Zeit seines Lebens mir die Schuld. Doch da er bei Tisch immer links von mir saß (meine Großmutter, dieser verhärmte Knochen, die mir kaum mehr Zuneigung entgegen brachte als ihr Schwiegersohn, saß rechts und hatte somit weitaus größeren Einfluss auf meine Erziehung), hörte ich allenfalls die Hälfte seiner vor sich hingenuschelten Hasstiraden und scherte mich einen Hundsdreck um das Gewäsch des einhändigen Kaspers.
Die wenigen vollständigen Worte, die ich mitbekam, setzte ich in meinem Kopf zu neuen Sätzen zusammen, zu orakelhaften Sinnsprüchen ohne Sinn, legte sie zurück in meines Vaters Mund, und so formte sich mir das Bild eines nicht nur verkrüppelten, sondern gleichermaßen stumpfsinnigen Jammerlappens, der nichts konnte oder tat, der hier auf dem Land auf dem Hof meiner Großmutter zu nichts nutze war und tagein, tagaus als Schmarotzer das Abendmahl mit uns einnahm, und der ansonsten den Tag über den Leuten aus den Augen ging.
So wuchs ich heran und gedieh prächtig – wie ich die Amme, die mich gestillt hatte, zu meiner Großmutter sagen hörte.
Noch an jenem Neujahrstag hatte man mich mit der Befürchtung, ich könne den Abend nicht erleben, auf den Namen Adam getauft. Aber bald schon zeigte sich, dass ich von robuster Natur war. Ich wurde größer und stärker und half schon früh, wo ich konnte, sammelte Holz, mistete den Stall, fütterte und melkte die zwei Kühe und die Handvoll Ziegen. Bald begann ich, im Hause kleinere Reparaturen an den Fensterläden, den Treppenstufen oder dem Dach auszuführen, und es kam der Tag, an dem meine Großmutter fand, ich sei lange genug zur Schule gegangen, und es sei nun an der Zeit, etwas Anständiges zu lernen, weshalb sie mich, ich war nicht einmal dreizehn Jahre alt, beim hiesigen Dorfschreiner in die Lehre gab.
So kam ich also zu Meister Esau, und hier war es, wo seine älteste Tochter, sie war sechzehn zu der Zeit, mir als Erste die Augen öffnen sollte für das, was ich für die Leute zu sein schien. Etwas Besonderes nämlich; das verheißungsvolle Abbild ihrer verlorenen Träume und Hoffnungen.
So wuchs ich heran und gedieh prächtig zu jenem Geschöpf aus begehrenswertem Körper und klarem Geist, gepaart aus unvoreingenommener Neugier und fast schon arroganter Gleichgültigkeit. Und in Anbetracht des Mangels an Zuneigung und guten Vorbildern verwundert es wenig, dass ich zwar äußerlich anziehend, doch innerlich anteilslos und unfähig war, echtes Mitgefühl zu empfinden.
Ich war ein verstocktes Kind, das mit einem unnachahmlich offenem Blick die Menschen in die Irre führte. Meine Verstocktheit legten sie als Bescheidenheit aus, mein Schweigen als Zurückhaltung. In meinen ebenmäßigen Zügen sahen die Leute nichts Arges, in meinen Augen, warmblau wie der See an einem Sommernachmittag, wollten sie etwas Engelsgleiches entdecken. In meinem Wuchs und Körperbau sahen sie die Anmut und Entschlossenheit eines himmlischen Kriegers. In meinen muskulösen Gliedern den Fleiß und die Früchte harter Arbeit eines irdischen Werkers. Und meine Lippen! Diese Lippen, karmesinrot und voll, immer leicht geöffnet, immer mit sinnlich-sanftem Schwung