Der Dichter und der Tod. Joana Goede. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joana Goede
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847606888
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Sie, wenn ich fragen darf?“

      Mehring antwortete: „Sechsunddreißig.“

      Kromnagel wiederholte: „Sechsunddreißig. Haben Sie eine Frau? Kinder? Haus? Hund?“

      Mehring lachte und gab zu: „Nein, ich muss Sie enttäuschen. Nichts von allem. Ich hatte einen Hund, aber der ist leider vor zwei Jahren gestorben. Seitdem wohne ich allein.“

      Kromnagel: „Wollen Sie keinen neuen Hund?“

      Mehring: „Noch nicht. Wissen Sie, ich habe den Hund sehr geliebt. Es braucht Zeit, um über so einen Verlust hinwegzukommen. Vielleicht schaffe ich mir nächstes Jahr wieder einen an. Allerdings ist es nicht so leicht, einen kleinen Hund zu haben. Man ist ja rund um die Uhr im Einsatz. Im Grunde kann man gar keine Beziehungen aufbauen, wenn man immer nur arbeitet. Außer zu den Kollegen.“

      Kromnagel nickte verständnisvoll und hakte nach: „Das klingt anstrengend. Und warum machen Sie das?“

      Mehring zuckte hilflos mit den Schultern, wobei er links abbog und sich suchend nach den Hausnummern umblickte, weil es bereits die richtige Straße war: „Ich schätze mal, es hat sich einfach so ergeben. Und ich mag meine Arbeit.“

      Kromnagel nickte und sagte: „Das ist gut. Wenn Sie sie mögen, ist alles gut. Aber hören Sie auf mich, nehmen Sie sich wieder einen Hund. Wenn schon keine richtige Familie. Ein Mensch sollte jemanden haben, der sich freut, wenn er nach Hause kommt. Er braucht einen Freund, einen Gefährten.“

      Mehring: „Und deshalb haben Sie eine Katze?“

      Kromnagel: „Ich hatte sogar drei Katzen, aber nur diese ist noch übrig. Katzen sind wunderbare Mitbewohner. Eigenständig, sauber. Und wenn sie einen lieben, dann ist das eine hohe Auszeichnung. Man fühlt sich geschätzt und geehrt, wenn sie einen anschnurren, mit einem kräftigen Kopfstoß begrüßen oder schmusen wollen.“

      Mehring hatte nun einen Parkplatz unweit von Kromnagels Haus gefunden. Kromnagel lebte in einer Wohnung, die ihm leider nicht gehörte. Nur zwei Straßenbahnstationen vom Friedhof entfernt. Er lebte in einem gräulichen Mehrfamilienhaus mit einem winzigen Garten an der Straßenseite sowie einem ziemlich großen Waschkeller, der es Kromnagel ermöglichte, sich den Gang zu Waschsalons zu sparen.

      Die Miete fraß sein geringes Kapital auf. Es war eine gewöhnliche Wohnung mit zwei kleinen Zimmern, Bad und einer Küche. Diese belegte Kromnagel seit dem Ende seines Studiums, seit mehr als fünfundzwanzig Jahren. Er schrieb und las dort, er kochte und sah fern. Ab und an kam der einzige Mensch zu Besuch, den er gern bei sich hatte: Anabell, die Tochter seiner Ex-Freundin Myriam.

      Zwar besuchten Kromnagel auch andere Leute. Verleger, Fans, alte Schulfreunde. Am meisten aber störte Kromnagel die Anwesenheit seines Bruders Sixtus, der seit seiner Scheidung vor fünf Jahren im selben Haus wohnte und ständig „auf ein Bier“ oder „auf einen Kaffee“ vorbeikam, sich Zucker, Sahne, Eier oder Klebeband borgte. Diese Besuche konnten nur noch dadurch gesteigert werden, wenn Sixtus seinen Sohn mitbrachte. Denn Kromnagels Neffe Benjamin, fünfzehnjährig und weitaus schlimmer, als Kromnagel sich selbst fünfzehnjährig in Erinnerung hatte, war chronisch übellaunig, chaotisch, manchmal gar aggressiv und vor allem unfassbar unhöflich. Besonders zu Kromnagels letztem verbliebenen Haustier, dem Kater Tristan, der sich von dem jungen Volk aber nichts bieten ließ. Seit neustem verließ der Kater, was auch immer er gerade tat, in dem Moment den Raum, in dem er eine der Stimmen von Kromnagels unliebsamer Verwandtschaft mit seinen geschulten Ohren vernahm. Er legte sich dann für die Zeit des Besuchs in Kromnagels Bett oder in den Wäschekorb, sofern sich frische Wäsche darin befand. Dort wartete er geduldig darauf, dass das Übel in Form des Neffens Benni wieder abzog.

      Damit wären auch alle Personen genannt, mit denen Kromnagel in seinem Alltag zu tun hatte. Freunde hatte er nicht viele, dafür aber alte. Die sah er nicht oft, doch auch das zeichnet eine gute Freundschaft aus: dass man sich nicht mit ständigen Besuchen auf die Nerven geht, sondern sich in Ruhe lässt, wenn Ruhe gewünscht wird. Und Kromnagel wünschte möglichst viel Ruhe. Die brauchte er dringend zum Dichten. Denn das Dichten fiel ihm, je älter er wurde, immer schwerer.

      Daran dachte Kromnagel, als er gleichzeitig mit Mehring aus dem Polizeiwagen stieg, erneut im strömenden Regen stand und die beiden schnell auf Kromnagels Haus zu liefen, das sich unauffällig in seiner Gewöhnlichkeit in den Regenhimmel erhob. Fünf Stockwerke hatte es, Kromnagel wohnte im Dachgeschoss. Weil Dichter nur in Dachwohnungen zufrieden sein können. Obwohl es dort freilich Erfindergeist braucht, um Bücher geschickt unterzubringen, bei all den Schrägen.

      Über einen Fahrstuhl verfügte das Haus nicht. Im Treppenhaus war der Boden klatschnass und ziemlich dreckig. Kromnagel latschte mit seinem von innen und von außen nassen Stiefel voran, dabei machte der Stiefel bei jedem Schritt einen knatschenden Laut, der Kromnagel draußen im Regen nie aufgefallen war. Doch hier, wo im Treppenhaus jedes Geräusch doppelt so laut hallte, wie es tatsächlich war, störte ihn das Knatschen bereits im zweiten Stock dermaßen, dass er stehenblieb, den Stiefel mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck vom Fuß riss und ohne ihn weiterging. Für den tauben Fuß machte das ohnehin keinen Unterschied mehr. Aber Mehring wäre um ein Haar in Kromnagel hineingelaufen, weil der so abrupt anhielt.

      Kater Tristan erkannte seinen Mitbewohner Kromnagel bereits lange bevor der den Haustürschlüssel in die Tür gesteckt hatte. Mehring vernahm beim Erreichen des fünften Stocks direkt ein leises Katzenjammern, das aus Kromnagels Wohnung kam.

      Kromnagel kramte den Schlüssel heraus und sagte erklärend zu Mehring: „Er wird böse sein, weil ich so lange weg war. Er kann sich seine Dosen schließlich nicht selbst öffnen. Vermutlich ist er ausgehungert und schlecht gelaunt.“

      Der Kater huschte als erstes, als Kromnagel die Tür öffnete, durch den Spalt ins Treppenhaus, rannte dreimal um Kromnagels Beine, stieß dabei sein forderndes Katzengeheul aus und beäugte anschließend stumm den neuen Gast. Kromnagel bat Mehring freundlich, einzutreten, ging nach ihm selbst über die Türschwelle und der hungrige Kater folgte ihm auf den Fersen. So verlor Kromnagel auch keine Sekunde. Er legte nicht einmal seinen Mantel ab, sondern ging direkt mit der nassen Socke und dem nassen Stiefel in die Küche, nahm eine Dose Katzenfutter aus dem Kühlschrank und entleerte sie in eine große, blaue Schüssel auf dem Boden. Der Kater hatte jeden dieser Schritte vom Küchentisch, auf den er gesprungen war, mit großem Interesse und schwer zu bändigender Ungeduld verfolgt. Er sprang hastig, als das Essen bereitstand, herunter und machte sich darüber her.

      Erst jetzt hatte Kromnagel die nötige Ruhe dazu, seinen Gast ins Wohnzimmer zu bitten. Mehring hatte in der Zeit unschlüssig im kleinen Flur gestanden, seine nassen Schuhe ausgezogen und seine Jacke ebenfalls. Die hielt er aber noch in den Händen, weil er keine Garderobe finden konnte.

      Kromnagel sagte: „Geben Sie her!“ Er nahm die Jacke und legte sie einfach, nass wie sie war, auf den hölzernen Küchentisch. Während Mehring nun im Wohnzimmer in einem ausgesprochen gemütlichen Ohrensessel platznahm, wechselte Kromnagel im Nebenzimmer rasch seine Kleidung, zog drei Sockenpaare übereinander, wovon zwei Löcher hatten, und schlüpfte dazu noch in flauschige Hausschuhe. Die Jacke hängte er im Bad auf. Mehring reichte er zwei große Handtücher, die heftig nach Lavendel dufteten, und kochte anschließend Kaffee. Der ganze Stress hörte auf, als der Kaffee dampfend auf dem kleinen Wohnzimmertisch stand und Kromnagel in einem zweiten Sessel erschöpft niedersunken war.

      Kromnagel fragte: „Möchten Sie vielleicht eine Wolldecke?“

      Mehring erwiderte: „Nein, danke.“ Er war noch bemüht, sich mit den Handtüchern etwas zu trocknen. Seine Motivation, zum Präsidium zu fahren, um sich umzuziehen, war nicht sonderlich groß. Dort wäre er nämlich zwangsweise mit seinem unsympathischen Partner zusammengestoßen, dem er in der Regel aus dem Weg ging. Sie beschränkten ihre gemeinsamen Ermittlungen auf Absprachen am Telefon und möglichst kurze persönliche Treffen. Es war nicht nur so, dass Mehring seinen Partner nicht mochte. Er gehörte sogar zu genau der Art Mensch, mit der Mehring gar nichts anfangen konnte. Der andere war aufgedreht, vollgepackt mit guter Laune und hatte für alles und jeden einen dummen Spruch parat. Mehring dagegen hasste dumme Sprüche. Und er mochte keine Menschen, die mit einem breiten Grinsen durch den Tag gingen und allen