Der Dichter und der Tod. Joana Goede. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joana Goede
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847606888
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wollte soeben zum dritten Fluch ansetzen, als er das Ding vor sich endlich als Kaninchen identifizierte. Er hatte es nun aus einem halben Meter Abstand erkennen können. Auch, dass es schon länger tot war. Die Augenhöhlen starrten leer in das trübe Grau des Morgens, der Bauch war platt, als bestände er lediglich aus Haut und Knochen. Kromnagel dachte für sich: „Aufgefressen. Von innen heraus. Einfach aufgefressen.“

      Eine Weile stand er neben dem Kaninchen und hielt den Schirm über das Tier, um es und sich selbst gleichermaßen vor dem Regen zu schützen. Er überlegte kurz, ob eventuell eine Beerdigung angebracht sein könnte. Immerhin befanden sie sich auf einem Friedhof, nicht weit ab von einem großen Gräberfeld. „Da kann man doch einen Toten“, sagte Kromnagel halb zu sich selbst, halb zu allen Verstorbenen um sich herum, „so einen Toten kann man nicht einfach unbegraben im Regen liegen lassen. Das gehört sich nicht.“

      Nein, es gehörte sich nicht. Trotzdem sah Kromnagel sich gezwungen, von einem Begräbnis im Regen abzusehen. Es lag nicht an mangelnder Motivation seinerseits, sondern eher an dem Kaninchen, das einen Transport verweigerte. Kromnagel versuchte es vorsichtig mit einem Stock, den er aus einem benachbarten Gebüsch entnommen hatte, vor sich her zu eben diesem Gebüsch zu schieben, um es dort in einem eigens angefertigten Erdloch beizusetzen. Allerdings: es gelang nicht. Das Kaninchen war in der Tat kaum mehr als aufgeweichtes Fell mit Knochen. Außerdem klebte es mit allem, was es noch hatte, am Boden fest. Der Stock rutschte ab in dem ganzen Wasser. Er glitt Kromnagel, der mit einer Hand den Regenschirm hielt und mit der anderen konzentriert den Stock steuerte, aus den nassen Fingern und fiel irgendwo ins Trübe.

      Kromnagel gab die Hoffnung auf und überließ das Kaninchen der Natur. „Man soll Tiere ja nicht vermenschlichen“, sagte er zu sich, derweil er andächtig Totenwache bei dem Kaninchen hielt. „Außerdem begraben Kaninchen ihre Toten ja auch nicht. Das gehört nicht zu ihrer Kultur. Eins mit der Erde werden sie so oder so. Man sieht es ja.“

      Er schaffte es eine Zeit nicht, sich von dem Anblick lösen. Zwar konnte er, wenn er aufrecht stand, das Tier nicht mehr scharf sehen. Es stellte eher eine dunkle Masse dar, die man für ein Kaninchen halten konnte, aber sicher konnte man sich dessen nicht sein. Irgendetwas jedoch hielt Kromnagel bei seinem morgendlichen Friedhofsfund fest. Als wenn er, stillschweigend und ohne sich dessen bewusst zu sein, eine Verantwortung für dieses unbekannte Tier übernommen hätte. Diese Begegnung schien ihm eine tiefere Bedeutung zu haben.

      Er trauerte nicht, denn der Tod gehörte auch zum Leben. Womöglich hatte das Tier ein erfülltes Leben gehabt. Was eben so Erfüllung genannt werden kann bei einem Kaninchen. Es hatte vielleicht viel gefressen, tolle Tunnel gegraben, viele Nachkommen gezeugt oder geboren, denn das Geschlecht wollte Kromnagel nicht festlegen. Er kannte sich dafür zu wenig mit der Materie aus. Für eine richtige Grabrede fiel ihm aus diesem Grund nicht genug ein.

      Außerdem ärgerte ihn sein nasser Fuß, der ihn von der Totenwache ablenkte. Kromnagel konnte nicht richtig in sich gehen, konnte nicht Abschied nehmen von diesem gewesenen Leben, weil sein Fuß fror wie verrückt. Weil er sich bereits vor Kälte verkrampfte, die Zehen sich krümmten, leicht taub wurden und damit war alles hinüber.

      Schließlich sagte Kromnagel laut, um das Trommeln des Regens auf dem Schirm zu übertönen, unter dem er und das Kaninchen sich aufhielten: „Es tut mir leid. Ruhe in Frieden. Mach das Beste draus.“

      Endlich stiefelte er zurück zu dem Weg, von dem er gekommen war, und warf von dort aus noch einen Blick zurück. „Merkwürdig“, dachte er, „dass du es überhaupt von hier aus hast sehen können. Bei dem Regen und ohne Brille.“

      Es war kaum mehr als eine Ahnung, dass da, an dieser dunklen Stelle, etwas sein könnte.

      Der Westfriedhof war an diesem Morgen wie ausgestorben. Kromnagel traf nicht einmal diejenigen, deren Arbeit es war, den Friedhof in Schuss zu halten und seine Schönheit zu pflegen. Mutterseelenallein hastete Kromnagel nun, da ihn die nasse Socke seit Längerem reizte, Richtung Ausgang. Dabei warf er sich vor, die falschen Schuhe für diesen Spaziergang gewählt zu haben. Er dachte einfach nicht genug nach. „Du denkst nicht!“ Das sagte er häufig zu sich. „Du machst einfach. Was soll dabei schon herauskommen?“

      Von der Welt um ihn herum nahm er gar nicht viel wahr. Alles um ihn wirkte nebelig, er sah wie durch einen Schleier. Diese Unschärfe verschaffte ihm ein Gefühl von Unnahbarkeit, von Einsamkeit und Stille. Er hatte den Eindruck, allein auf der Welt zu sein. Allein mit den Toten, deren Grabreihen er durchquerte. Heute machte er sich nicht einmal die Mühe, den einen oder anderen Namen zu lesen, wofür er nah an ein Grab hätte herantreten müssen. Denn heute war ihm die Lust am Spazierengehen vergangen. Sei es das Kaninchen, die vergessene Brille oder die nasse Socke.

      Auf einmal stolperte er in seiner Unachtsamkeit über eine Wurzel, die sich unter dem Gehweg hindurchgeschlängelt hatte und an der Oberfläche herausstand. Kromnagel strauchelte, der Regenschirm flog ihm aus der Hand und landete irgendwo in der Vegetation. Kromnagel hingegen landete auf dem Hosenboden. Wieder fluchte er, auf dem feuchten Boden sitzend, nun plötzlich richtig nass. Denn ein Augenblick ungeschützt in diesem Regen reichte aus, um komplett durchweicht zu sein. „Du guckst dich nie um“, sagte er zu sich und seufzte laut. „Du rennst hier herum und begreifst gar nicht, was um dich herum passiert. Da hättest du auch gleich in der Wohnung bleiben können!“

      Aber, das fiel ihm direkt ein, er hatte das Kaninchen gesehen. Er gab es also auf, sich weiter zu schelten, richtete sich stattdessen mühsam auf und begann seinen Schirm zu suchen. Leicht war das nicht. Der Wind hatte ihn offenbar ein Stück mit sich getragen, Kromnagel musste hinter einen Rhododendron kriechen, über einen großen Grabstein steigen, zwei kleine Wege kreuzen, um ihn endlich hinter einem kleinen Brunnen, der zum Wasserholen und zum Auffangen des Regenwassers diente, zu entdecken. Da befand Kromnagel sich schon fast am Rand des Friedhofs. Nur wenige Meter trennten ihn und den Schirm von dem Drahtzaun, der den Friedhof zu allen Seiten hin begrenzte. Dahinter befand sich ein Waldweg, den Kromnagel auch öfter entlang ging.

      Kromnagel machte nun drei lange Schritte, stellte sich, mittlerweile auf jeglichen Anstand verzichtend, auf das Grab neben dem Brunnen und blickte hinter den Brunnen auf seinen Schirm. Ihm war vollkommen schleierhaft, wie dieses Ding hier landen konnte. Er nahm den Schirm hoch und erstarrte.

      In eben dem Moment, in dem er sich schon glücklich hatte umwenden und endgültig den Heimweg antreten wollen, fiel ihm eine Sache ins schwache Auge, die eine Irritation in ihm auslöste.

      So stand Kromnagel bewegungslos auf dem Grab, hielt den Schirm über sich und starrte auf einen Bereich hinter dem Brunnen, der von etwas verdeckt wurde, das da in der Form nichts zu suchen hatte. „Sicher“, sagte sich Kromnagel, „Friedhöfe sind Sammelstellen für Tote.“ Nur für gewöhnlich liegen diese Toten nicht einfach so irgendwo herum.

      Dieser Tote, dem Kromnagel in seiner Orientierungslosigkeit gegenüberstand, lag dort ähnlich dem Kaninchen, wenn auch in einem ungleich besseren Zustand. Trotzdem löste sein Anblick in Kromnagel zuerst Verständnislosigkeit, dann einen Haufen an vernünftigen Erklärungsversuchen und schließlich die stille Akzeptanz, begleitet von einem unvermeidbaren Würgereiz aus. Denn Kromnagel hatte zu seinen Lebzeiten noch nie einen toten Menschen gesehen. Dieser Anblick, wenn auch unscharf, machte einen weitaus größeren Eindruck auf ihn als das tote Nagetier. Und kein Gedanke erschien in ihm, diesen Toten begraben zu wollen. Obwohl es zur menschlichen Kultur gehörte, ihre Toten durch irgendeine Art der Bestattung zu ehren. „Denn genauso“, das ging Kromnagel auf, als der Würgereiz nachließ, „gehört es zur menschlichen Kultur, einen Toten nicht einfach so auf einem Friedhof herumliegen zu lassen.“

      Dass dieser Mensch dort so lag, wie er eben lag, war nicht normal.

      Kromnagel zögerte. Hypothesen zerfurchten sein Gehirn und seine Stirn, die er in Falten legte. Mehrere Erklärungen fielen ihm ein.

      Die eine war, dass es sich um ein Mordopfer handelte. Die zweite, dass dieser Mensch eines natürlichen Todes bei einem Friedhofsbesuch gestorben war. Die dritte, etwas komplizierter, ging davon aus, dass diese Leiche hatte aus dem Kühlraum des Friedhofs für wissenschaftliche Zwecke entwendet werden sollen, die Leichendiebe aber bei ihrem Raub unterbrochen worden waren