„Was soll das?“, brummte er.
Er veränderte die Position der Kamera und stellte Blende und Entfernung ein. Als er auf den Auslöser drückte, glomm der Blitz auf, und in den Augen des Gottes erwachte ein rotes Lodern.
Diesmal waren es kleine Flämmchen, deutlich zu erkennen. Sie züngelten kurz auf, genau in den Augen des steinernen Gesichts. Jan Kröttgen stöhnte. Was war los? Litt er etwa unter Wahnvorstellungen? Nein, das musste etwas mit Chemie zu tun haben. Irgendein Material, das mit hellem Licht entflammt werden konnte. Ehrlich gesagt, er hatte sich schon gewundert, warum die Mexikaner ihnen Blitzlichtaufnahmen untersagt hatten. Bei einem Gemälde konnte er das noch verstehen – das grelle Licht konnte die Farbe ausbleichen. Aber bei einer Steinplatte?
Sofort drückte er noch einmal den Auslöser. Es war, als gieße man Öl ins Feuer. Aus den Augen des Sonnengottes wuchsen neue Flammen, länger und kräftiger als zuvor. Jan näherte sich dem Stein und hielt seine Hand über die Feuerzungen, doch bevor er ihre Hitze richtig spüren konnte, waren sie schon wieder verschwunden.
Faszinierend! Ohne lange nachzudenken, stellte er das Blitzgerät auf Mehrfach-Blitz. Er war hier einer Riesensache auf der Spur – vielleicht stand er gerade vor einer neuen wissenschaftlichen Entdeckung, die ihn berühmt machen würde.
Jan drückte den Auslöser. Es blitzte zehnmal kurz hintereinander.
„Um Gottes Willen“, keuchte er im nächsten Moment. Orangerote Feuersäulen schossen zischend aus den Steinaugen, so lang, dass sie die Zimmerdecke trafen. Dort hinterließen sie schwarze Brandspuren. Es roch nach Ruß, und der Raum wurde in hellen Feuerschein getaucht. Jan taumelte. Erst nach einigen Sekunden schrumpften die Flammenbahnen. Doch diesmal verschwand das Glimmen in den Augen des Steinreliefs nicht völlig. Sie leuchteten weiter wie glühende Kohlen.
Jan Kröttgen merkte gar nicht, dass er sich dem Stein näherte. Er fürchtete sich, aber er lief nicht weg. Er war wie hypnotisiert von diesen Flammenaugen. Da er ein wenig schwankte, hielt er sich am Tisch fest, auf dem der Stein lag, beugte sich über das Gesicht, sah dem Gott direkt in die glühenden Augen.
In diesem Moment schossen zwei Strahlenbündel aus den glimmenden Pupillen. Die Strahlen hatten ein Ziel, ein menschliches Ziel. Sie bohrten sich genau in die Augen von Jan Kröttgen.
Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Seine Kehle war wie ausgetrocknet. Die Strahlen taten nicht weh. Sie verbrannten seine Augen nicht, aber er konnte spüren, wie sie tief, sehr tief eindrangen, bis in sein Gehirn vielleicht.
Etwas veränderte sich in seinem Kopf. Eine seltsame Hitze breitete sich dort aus. Seine Augen – sie waren plötzlich voller Energie, als wären es Waffen, die man abfeuern konnte. Er ging ein paar Schritte rückwärts, stolperte über eine Kiste und stürzte. Obwohl er mit dem Rücken gegen irgendeine Kante prallte, spürte er die Schmerzen kaum.
Er sah nicht mehr so gut wie vorher. Die Welt vor seinen Augen war bläulich und verschwommen. An der Wand verlief eine rötliche Ader. Es musste die Stromleitung sein. Er konnte die Elektrizität sehen! Der Strom, der durch das Kabel floss, war rot wie Blut.
„Das ist unglaublich“, murmelte er. „Ich muss … den anderen davon … er-… erzählen … aber … sie werden … erschrecken … ja … wie … wie sehe ich denn überhaupt aus … ich muss …“
Spiegel gab es in diesem Raum keinen, und natürlich trug er als Mann keinen Schminkspiegel bei sich. Unter den Kisten war auch keine aus Glas, in der er sich hätte betrachten können. Aber da stand das Stativ mit seiner Kamera. Mit zitternden, ungeschickten Händen drehte er das Objektiv in seine Richtung, bückte sich und starrte direkt in die Linse.
Als er abdrückte, war der Blitz nicht weiß, sondern rot. Das rote Licht erfüllte ihn.
Es fühlte sich an, als ob er mit den Augen trinken würde. Und was er trank, war eine echte Energiebombe. Nicht so wie diese zuckersüßen Energy-Drinks – er spürte sofort, wie er stärker wurde. Jan riss die Kamera an sich, drückte den Knopf zum Betrachten des Bildes und starrte auf das Display. Im ersten Moment erkannte er sich kaum. Ja, doch, er war es, aber er sah fremdartig aus. Sein Gesicht war verzerrt wie von Hass oder Wut, und seine Zunge ragte ein Stück weit aus seinem Mund heraus.
Genau wie bei dem Aztekengott auf dem Steinkalender.
Sein Mund war zu einem Kreis geformt, als hätten seine Lippen im Moment der Aufnahme ein O geformt.
O.
Was hatte er gemeint? Welche Wörter begannen mit O?
Opfer, sagte eine Stimme in seinem Kopf. O wie Opfer. Opfer für Tonatiuh. Opfer für den Sonnengott.
Was für Opfer denn?, dachte er. Aber er kannte die Antwort schon. Die Azteken waren bekannt dafür, dass sie ihrem Gott Menschenopfer dargebracht hatten. Bei ihren Feldzügen hatten sie feindliche Soldaten gefangengenommen und in ihre Hauptstadt Tenochtitlan gebracht, um sie dort zu opfern.
Das Aztekenreich war vor fünfhundert Jahren von den Spaniern zerstört worden. Seither bekam der Sonnengott keine Opfer mehr.
Das ist eine lange Zeit, meldete sich wieder die Stimme in Jan. Eine viel zu lange Zeit.
Jan Kröttgen konnte nicht mehr klar denken. Er wusste nicht, wem die Stimme gehörte. Vielleicht war es ja seine eigene.
„Opfer“, wiederholte er. Er konnte nur undeutlich sprechen, da ihm die Zunge aus dem Mund hing.
Er würde nach einem Opfer suchen.
Für Tonatiuh. Für den Sonnengott.
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