„Hilfe!“, schrie Heiner. „Einen Arzt!“
Einer seiner Kollegen hörte ihn und tippte auf dem Diensthandy die 112.
Als der Notarzt fünf Minuten später eintraf, kniete Heiner noch immer neben der Frau. Ihre Hände hatten aufgehört zu malen, hielten jetzt die Blätter fest. Sieben Kollegen standen im Kreis um ihn und die Dicke herum, und die Retter mussten sich einen Weg durch die Gaffer bahnen.
„Hallo“, sagte einer der Weißgekleideten zu der Frau. „Können Sie mich hören?“
Sie atmete ruhig und gleichmäßig, doch sie reagierte nicht.
Zwei kräftige Sanitäter und ein Arzt schafften es nicht, sie auf die Bahre zu hieven. Schließlich musste jeder der Umstehenden mit anpacken. Die Bahre mit der schweren Patientin in gebückter Haltung unter dem Laufband durchzutragen, war eine Tortur. Irgendwie schafften sie es, doch einige von ihnen hielten sich danach das Kreuz und konnten minutenlang nicht aufrecht gehen.
Alle erzählten sich ausführlich, welche grässlichen Rückenschmerzen sie hatten, und keiner merkte, wie der Frau eines der beiden Blätter entschlüpfte und zu Boden flatterte.
Keiner außer Heiner.
Er hob das Papier auf und betrachtete es, während die anderen die Sanis zum Krankenwagen begleiteten. Die Zeichnung füllte das gesamte Blatt. Sie zeigte eine Art Maske mit vielen Stacheln. Die Maske streckte dem Betrachter die Zunge heraus und sah ziemlich schlecht gelaunt aus. Nein, nicht schlecht gelaunt, sondern abgrundböse. Heiner erinnerte das Bild an Reliefs von indianischen Gottheiten, die man in Mexiko gefunden hatte. Er hatte so etwas einmal in einer Zeitschrift gesehen.
Er wollte es den Sanitätern bringen, doch sie waren beschäftigt und hörten ihm nicht zu. Als der Krankenwagen schließlich abfuhr, stand Heiner mit der Zeichnung in der Hand da wie ein begossener Pudel.
„Heute“, murmelte er geistesabwesend, „heute ist endlich mal etwas passiert.“ Er faltete die Zeichnung zusammen, steckte sie in seine Hosentasche und machte sich wieder an die Arbeit.
Geheimnis am Totenbett
„Hey Finchen, du machst ja ein Gesicht, als ob jemand gestorben wäre.“ Mit diesen Worten begrüßte Alkan seine Mitschülerin Serafina im Klassenzimmer. Er saß schon mit ausgepackten Büchern an seinem Tisch in der letzten Reihe, als sie durch die Tür kam. Sie hatte den Kopf gesenkt, ihre Arme hingen schlaff an ihren Schultern, als wären sie aus Gummi.
„Es ist jemand gestorben, du Dummkopf“, fauchte das Mädchen zurück.
„Was?“ Alkan sprang so hastig auf, dass er den Stuhl dabei umwarf. „Um Gottes Willen, das tut mir leid. Ich … wollte nicht …“ Er hatte sie necken wollen, einfach nur so, wie er es immer tat, wenn sie morgens verschlafen zur ersten Stunde kam. Serafina war kein Morgenmensch – sie wachte erst in der großen Pause so richtig auf. Er lief auf sie zu, stolperte dabei über seine eigene Schultasche, ruderte mit den Armen und hätte sich fast vor ihr flachgelegt.
„Schon gut“, gab sie leise zurück. „Du konntest es ja nicht wissen.“
Alkan schluckte. „Wer … wer ist es, ich meine, wer war es denn, der … du weißt schon …“
Das Mädchen ging um ihn herum, steuerte ihren Tisch an und zog ihren Stuhl vor, setzte sich aber nicht darauf. Wie eine Statue stand sie daneben, und es sah aus, als hätte sie vergessen, wozu ein Stuhl gut war. „Ein Großonkel von mir“, sprach sie nach einer langen Stille weiter. „Onkel Richard. Du kennst ihn nicht.“
„Doch“, widersprach Alkan sofort. „Er hat bei deiner letzten Geburtstagsparty kurz vorbeigeschaut. Der hagere Mann mit den buschigen Augenbrauen, stimmt’s? Er hatte diese komischen Drops dabei. Jedem von uns hat er eins geschenkt, aber keiner hat seins gegessen.“
„Salmiak-Bonbons“, murmelte Serafina abwesend. „Scheußliches Zeug. Er hat immer eine Tüte davon in der Westentasche. Hatte.“
„Hast du ihn sehr gemocht?“
Das Mädchen starrte ihn an, als hätte er etwas Verbotenes gefragt. „Natürlich, was denkst du denn!“, kläffte sie. Dann wurde sie wieder still, und nach einer Weile gestand sie: „Er war mir ziemlich unheimlich. Eigentlich habe ich mir nicht viel aus ihm gemacht, als er noch lebte. Aber jetzt, wo er tot ist, ist das irgendwie anders. Er tut mir so leid, weißt du? Das macht mich total fertig.“
„Das ist völlig normal, Fina“, tröstete Alkan sie. Fina, das war der übliche Spitzname, mit dem er sie immer rief. Finchen nannte er sie nur, wenn er sie ärgern wollte.
Bisher waren die beiden alleine im Klassenzimmer gewesen, doch nun trudelte eine Gruppe von drei Schülern ein. Serafina blickte Alkan scharf an und legte kurz den Finger auf den Mund. Bitte erzähl den anderen nichts, hieß das. Ich möchte es nicht allen erklären müssen. Jetzt nicht.
Sie ließen zwei Stunden Mathe und eine Stunde Geografie über sich ergehen, und Serafina war geistig so abwesend, dass es den Lehrern bestimmt auffiel, aber sie schimpften nicht und löcherten sie auch nicht, was mit ihr los sei. Wahrscheinlich hatten Serafinas Eltern die Klassenlehrerin über den – wie sagte man? – Trauerfall in der Familie informiert. Ja, so musste es sein, denn die Lehrer fassten das Mädchen heute mit Samthandschuhen an, lächelten ständig und lobten sie, ohne dass sie etwas Lobenswertes getan hätte.
Es war ein ganz merkwürdiges Gefühl, dabei zuzusehen, wie man sie verwöhnte und verhätschelte. Normalerweise sah das Verhältnis der Lehrer zu Serafina nicht so rosig aus. Da flogen öfters mal die Fetzen. Serafina galt als schwierig. Sie war eine gute Schülerin, aber sie konnte sehr stolz und empfindlich sein und ließ sich nicht gerne etwas sagen. Außerdem ging bisweilen ihre Fantasie mit ihr durch, und sie verwechselte ihre Traumwelt mit der Wirklichkeit. Lehrer schätzen so etwas nicht.
In der großen Pause trafen sich Alkan und Fina in ihrem Versteck. Natürlich war es kein richtiges Versteck, denn Schulhöfe werden nicht so angelegt, dass die Schüler sich irgendwo vor den Blicken der Lehrer verbergen können. Trotzdem: Die Stelle neben dem Geräteschuppen war ziemlich abgelegen, und man kam sich wenigstens ein bisschen vor, als wäre man alleine. Zu den beiden gesellte sich sofort Marie. Außer Marie hätten sie alle weggejagt, aber sie gehörte fest zu ihrer kleinen Clique von drei Freunden beziehungsweise Freundinnen dazu. Alkan wurde schon mal dafür gehänselt, dass er am liebsten mit zwei Mädchen abhing, doch das prallte an ihm ab. Er hatte nichts gegen Jungs als Freunde – in seiner Nachbarschaft gab es einige, mit denen er ab und zu Fußball spielte –, aber in seiner Klasse waren nun einmal Marie und Fina mit Abstand die coolsten.
„Was ist mit dir los?“, erkundigte sich Marie, die noch von nichts wusste. „Hast du schlecht geschlafen?“ Marie war ein schlankes Mädchen mit vielen Sommersprossen und roten Wuschellöckchen, und ihre leuchtend blauen Augen funkelten sehr besorgt.
Serafina berichtete vom Tod ihres Großonkels. Kaum waren die Worte draußen, nahm Marie sie gleich in den Arm und drückte sie an sich. Vielleicht erwartete sie, dass ihre Freundin sich gleich an ihrer Brust ausheulen würde. Doch Fina drehte den Kopf zur Seite und warf Alkan einen verzweifelten Blick zu.
Er verstand zuerst nicht, was der Blick ihm sagen wollte, doch allmählich dämmerte ihm, dass der Tod ihres Großonkels vielleicht nicht das einzige war, was Fina bedrückte. Da schien es noch etwas zu geben, wovon sie beide noch keine Ahnung hatten.
Die Pause war zur Hälfte vorbei, als Fina endlich mit der Sprache herausrückte. Danach wünschte Alkan, sie hätte geschwiegen.
„Wisst ihr“, begann Serafina, „als Onkel Richard im Sterben lag, waren wir bei ihm, meine Eltern und ich. Mein Cousin hatte uns angerufen. Er lag in einem Hospital drüben in Rathsburg. Man hatte ihn in ein Einzelzimmer