Erlöse mich. Rainer Rau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Rau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750225992
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Verstorbene war erst siebzehn Jahre alt und vor sechs Tagen bei einem Autounfall in Hamburg ums Leben gekommen. Nun lag Saskia Gebert in einem Sarg aus Eichenholz, der an den Rändern mit maschinell hergestellten, verleimten Leisten verziert war und dessen sechs Tragegriffe aus massivem Messing bestanden. Dem Betrachter konnte es bei längerem Hinschauen auf den Sarg und dessen Messinggriffe vorkommen, als kämen diese aus Secondhandbeständen des Bestatters, da sie abgenutzt waren und sicherlich nicht, wie in der späteren Rechnung ersichtlich aufgelistet, als Neuware deklariert waren.

      Der Sarg war teuer und die Sterbegeldversicherung, die die Eltern vor vielen Jahren für die ganze Familie abgeschlossen hatte, reichte für die Beerdigung nicht aus, da ein Selbstbehalt von fünfhundert Euro im Vertrag, zwar nur ganz klein, jedoch lesbar, vereinbart war.

      Saskias Vater wollte nach Erhalt der Rechnung die Versicherung um Stellungnahme bitten, doch seine Frau war dagegen. Sie wollte Ruhe und keinen Streit mit den Behörden. So wurde auch später nicht mit dem und nicht über das Beerdigungsunternehmen gesprochen. Was man dort mit Zufriedenheit vernahm und einen Haken an den Fall machte. Die vielen anderen Haken, die für die vielen anderen gebrauchten Neugegenstände aus den Jahren voher standen, waren ja ebenfalls ohne Nachfrage durchgegangen. Bei einer Beerdigung wurde nicht so oft reklamiert wie bei jedem anderen Kauf.

      Besonders tragisch war es, dass auch Saskias Bruder erst vor wenigen Monaten verstorben war und die Eltern somit einen herben Doppelverlust hinnehmen mussten. Im Ort trauerte man mit den Eltern und vertrat die Auffassung, dass das Schicksal manche Menschen schon sehr hart treffen konnte. In einem kleinen Ort, wo man sonntags noch zur Kirche ging, stellte der eine oder andere sich die unbeantwortete Frage, warum Gott so etwas zulassen konnte.

      Der Autofahrer war direkt auf das Mädchen zugefahren, hatte sie mit der Stoßstange erwischt, sie hochgeschleudert und sie war mit dem Kopf in die Windschutzscheibe gekracht. Dann war sie über das Dach des Wagens geschleudert worden. Sie flog sechs Meter durch die Luft und landete dann mit dem Kopf zuerst auf dem Asphalt, wobei ihr Genick mit einem hässlichen Knacken zerbrach, fast so wie der Hals einer Flasche, die auf eine Tischkante aufschlug. Bis auf die Abschürfungen an der rechten Gesichtshälfte, an den Knien und am rechten Oberschenkel sowie dem Bruch eines Handgelenkes hatte sie aber keine äußeren Verletzungen. Das nützte ihr herzlich wenig, denn sie war trotzdem mit sofortiger Wirkung tot.

      Der Autofahrer fuhr zurück, hielt an, stieg aus und ging schnellen Schrittes zu dem Mädchen hin. Er schaute sie an, sah die getrübten Augen, die sich nicht bewegten und ihm war sofort klar, dass sie nicht mehr am Leben war. Er wollte sie nicht töten, hatte aber ihren Tod billigend in Kauf genommen. Er hatte halt zu spät gebremst. Absichtlich zu spät. Er wollte sie lediglich mit ihrem ‚Gepäck’ sicherstellen. Er hätte ihr aber zu Fuß nicht folgen können. Sie war ihm schon am Flughafen entkommen, denn sie war schnell in ihren weißen Turnschuhen mit den drei schwarzen Streifen. So dachte er sich, wenn du sie leicht mit dem Auto erwischst, kann sie nicht so schnell weglaufen. Das war nun in die Hose gegangen.

      Er zuckte mit der Schulter und sagte zu sich selbst:

      „Na, wenn schon. Du bist ersetzbar!“

      Er öffnete den Kofferraumdeckel und wollte den leblosen Körper des Mädchens gerade hochheben, als er ein anderes Fahrzeug bemerkte, das zwar noch weit entfernt war, sich aber schnell näherte. Diese Gegend am Rande von Hamburgs Innenstadt wurde um diese Tageszeit nachts um halb zwei Uhr sonst eher weniger befahren. Ausgerechnet jetzt kam ihm ein Fahrzeug in die Quere.

      Er fluchte.

      „Mist!“

      Nur dieses eine Wort kam über seine Lippen, dann schloss er schnell den Kofferraumdeckel wieder, stieg noch schneller in seinen Wagen und gab Gas. Das Mädchen musste er auf der Straße liegen lassen. Es blieb keine Zeit mehr, um sie einzuladen, sonst hätte man wohl sein Nummernschild erkennen können.

      Die Polizei, gerufen von dem Fahrer, der gerade sein Fahrzeug neben der Toten zum Stehen brachte, nahm den Unfall mit Fahrerflucht eine halbe Stunde später auf. Die Hamburger Polizei informierte die Kollegen des Präsidiums Mittelhessen sofort. Noch am selben Tag überbrachten morgens um sieben Uhr fünfzehn zwei Beamte den Eltern der Toten die Hiobsbotschaft.

      Das Kennzeichen hatte der Zeuge nicht erkennen können, da sich das Fahrzeug mit großer Geschwindigkeit entfernt hatte. Nur dass es ein großer Wagen, BMW, Audi oder Mercedes war, schwarz oder dunkelblau, wusste er zu berichten.

      Der Polizeibeamte gab seine Beschreibung noch am Unfallort über Funk an die Zentrale weiter, in der er die Farbe dunkelblau ausschloss, da nach seiner Meinung Autos solcher Preisklasse nicht in „Blau“ gekauft würden und die Annahme des Zeugen, es sei ein dunkelblauer Wagen gewesen, eher auf die Dunkelheit und somit auf die schlechten Sichtverhältnisse zurückzuführen sei.

      Er war der Annahme, dass ein großer Wagen von einem betuchten Eigentümer, der einen erlesenen Geschmack besaß, gefahren wurde. Also konnte es keine Farbe Blau sein.

      Die Fahndung nach einem Wagen in ‚Schwarz’ der gehobenen Preisklasse, welcher eventuell einen Unfallschaden im Frontbereich haben könnte, verlief trotzdem ergebnislos.

      Als man den Eltern die schlimme Nachricht überbrachte, schrie die Mutter ihren Schmerz heraus, sodass man ihr sofort ein starkes Beruhigungsmittel verabreichen musste. Der Arzt verschrieb ihr ein starkes Mittel in Tablettenform, von denen sie dreimal täglich je zwei Stück am Tag schluckte.

      So überstand sie größtenteils teilnahmslos und ohne weitere Schreianfälle die fünf Tage bis zur Trauerfeier in der kleinen Kapelle auf dem Friedhof.

      Als die Glocke langsam verstummte und die letzten drei Schläge leiser wurden, breitete sich eine wohltuende Ruhe in dem kleinen Raum der Friedhofskapelle aus.

      Dann setzte die Orgel ein.

      Der Pfarrer betrat die Kapelle und man konnte ein Räuspern oder dezentes Husten im Raume hören.

      Die Organistin haute ordentlich in die Tasten, als ob sie alle düsteren und traurigen Gedanken der Trauergäste damit vertreiben wollte.

      Als die Orgel nach drei Minuten endlich verstummte, war es mucksmäuschenstill. Räuspern und Husten hatten aufgehört und man lauschte dem, was da vom Pfarrer gesagt werden sollte.

      Man hätte tatsächlich die oft zitierte Stecknadel fallen hören können.

      Gerade als der Pfarrer am Anfang seiner Predigt sein ‚gesegnet sei der Herr unser Gott’, loswerden wollte, drang ein Geräusch aus dem Sarg.

      Es war nicht laut und in den hinteren Reihen hatte man es kaum vernommen.

      Die Angehörigen, ganz vorne sitzend, hatten es jedoch sofort gehört.

      Die Mutter der Toten schrie auf. Man sah sich ungläubig an und wusste nicht, was das eben gewesen war.

      „Sie lebt! Sie lebt! Habt ihr nicht das Klopfen gehört? Macht sofort den Sarg auf!“

      Die Frau war aufgesprungen und auf den Sarg zugelaufen. Sie war wie von Sinnen und rief noch einmal, man solle sofort den Sarg öffnen.

      Sie fasste sich mit der rechten Hand an den Bauch und knickte etwas ein.

      Sie hatte Schmerzen im Magenbereich und sie kämpfte mit der aufsteigenden Magensäure. Mehrmals musste sie das sich sammelnde Wasser im Mund runterschlucken.

      Eine große Betroffenheit breitete sich in der kleinen Kapelle aus. Jetzt standen nach und nach alle Trauergäste auf. Die im hinteren Bereich erfuhren durch Zuflüstern der Vorderen, dass sich im Sarg etwas bewegt hätte. Es entstand ein lautes Stimmengewirr.

      Der Pfarrer bekreuzigte sich und sein Blick nach oben suchte die Hilfe und den Beistand seines Herrn.

      Ein Onkel der Verstorbenen fasste sich ein Herz und sorgte nun für etwas Ruhe.

      „Ruhe! Bitte Ruhe! Seien Sie etwas ruhiger!“

      Er trat an den Sarg und stützte seine Schwester, die Mutter der Toten, die nun drohte, trotz der vielen Beruhigungstabletten ohnmächtig zu werden.

      Er führte