Rocco und Jele. Angelika Waldis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Angelika Waldis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844267532
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andern glauben soll, wenn sie von ihrer Kindheit reden. Zurechtgemachte Geschichten, denkt er. Und wundert sich, dass Nabokov noch weiß, wie er als Fünfjähriger mit dem Zeigefinger auf ein Kopfkissen gezeichnet hat.

      Ob er das Gesicht sieht im Dach gegenüber, will Jele jetzt wissen. »Wo? Ach ja, jetzt seh ich’s.«

      Er sieht es nicht.

      Wenn Jeles Mutter Tee trinkt, nimmt sie mit einer Hand die Tasse und mit der anderen die Untertasse vom Sofatisch. Sie war nicht immer eine Kioskfrau. Beim Schlucken schließt sie die Augen.

      An seiner Tasse klebt Eigelb.

      Es ist ihm wohl in Jeles altem Nest.

      13

      Im Fünfeck hat sich nichts verändert, Franz ist da und Charlie, die ganze Clique. Er weiß nicht, ob er noch hierhergehört, jetzt mit Jele.

      Gleiche Gesichter, gleiche Geräusche, und auch diesmal ist Franz der Unterhalter, schildert seine Computerabstürze. Jele zieht nach, sie hat die gleiche Software, den gleichen Ärger. Sie fangen an zu fachsimpeln. Jele macht auf dem Tischtuch eine Skizze. Die andern wenden sich ab, reden von einem gebrochenen Fuß.

      Er sitzt allein zwischen den Stimmen, horcht in den Sprudel aus Lauten. Manchmal zischt die Kaffeemaschine dazwischen.

      Dann steht plötzlich Manuel am Tisch und wirft ihm eine Stille zu, eine Lautlosigkeit, wie fallender Schnee, darin nur sie zwei.

      Sie setzen zu einem Lächeln an, da heißt es schon rundum Hallo, und Franz zieht Manuel zu sich heran und streckt ihm sein Glas hin, damit er den Drink probiert, den Franz heute erfunden hat.

      14

      In diesem Waldstück hat er sie zum ersten Mal gesehen, da war sie nicht mehr als ein Lila, jetzt ist sie eine Jele.

      Sie trägt auch heute die lila Jogginghose. Darüber irgendwas Flatterndes, Dunkelblaues, er versucht sich vorzustellen, wie sie aussieht, jetzt hinter ihm, leicht keuchend. Die Haare im Nacken zusammengebunden, auf der Stirne schweißnasse Strähnchen, Mund wahrscheinlich offen, ums Handgelenk wahrscheinlich der blaue Reif, den er ihr auf dem Flohmarkt gekauft hat. Jele, lass dich ansehen.

      »Borke«, sagt sie, »klingt wie ein norddeutscher Vorname.« Er küsst sie, und der Jelemund lässt sich zerdrücken wie reife Beeren, und die Jelefrau drängt aus dem Stamm, an den er sie presst. Sie lacht, und dann zerspringt der Wald in grüne Sprenkel.

      15

      Sie lässt sich wunderbar reinlegen, macht ein Gesicht wie ein Kind, das nicht sicher ist, ob es geneckt wird. Er hat ihr gesagt, dass sich Spiralnudeln strecken, wenn man sie zuckert. Er hat ihr gesagt, in einem Kino sei die Luftfeuchtigkeit je nach Film verschieden. Jele, du glaubst zu schnell!

      Sie hat immer einen Kamm dabei. Sie steckt sich die Haare neu hoch. Sie fährt mit den Ringfingern über die Brauen. Sie legt ein Lächeln auf und legt es wieder ab. Sie weitet die Nasenlöcher und prüft, ob sie sauber sind. Jele, du bist schön!

      Sie sitzen in der Foto-Kabine. Das Licht wird gleich aufblitzen und ihre Gesichter vereisen. Er gibt sich gar nicht erst Mühe, so auszusehen, wie er möchte. Diese Bilder kann man gleich zerreißen. Aber Jeles Gesicht vorhin, das bestürzte, das möchte er behalten, um daran zu lachen.

      16

      Rebgelände hat immer etwas Wohlgefälliges, die sanften Hänge, gleichmäßig gestrichelt, nach jeder Straßenkurve vom Licht ein bisschen anders getönt, ein Stoffmusterbuch. Jele summt. Im Kofferraum vibriert etwas, wenn er bergab fährt. Überhaupt wird der Wagen mit dem Alter immer lauter, auf der Autobahn dröhnt er. Eigentlich müsste er ihn loswerden. Aber wie kann er das, wo er doch immer noch nach Glück riecht, nach Portugal, nach Manuel. Und jetzt hat er wieder neue Bremsbeläge.

      Warum gehen diese Typen nicht zur Seite? Sie grinsen. Sind die Fenster zu?

      Die wollen uns irgendwas andrehen.

      Wir brauchen nichts.

      Der dumpfe Schlag auf die Tür war wahrscheinlich eine Faust. Ihr könnt mich mal. Jetzt geb ich Gas, ich schieb sie zur Seite. Na, also. Was war das nun Dumpfes?

      Im Rückspiegel sieht er, dass einer am Boden liegt, sich aufrichtet.

      Nein, er wird nicht anhalten, diese Freude macht er ihnen nicht.

      Nein, Jele.

      In die Kurve jetzt, danach sind sie außer Sicht.

      17

      Anhalten, nein, dann wär’s gefährlich geworden. Diese jungen Sans-Papiers, so hat er gelesen, können aggressiv sein. Sie haben nichts. Sie haben nichts zu verlieren.

      Jele schweigt.

      Dreingeschlagen hätten die, wäre er ausgestiegen. Hätten ihm das Geld abgenommen, ihn erpresst, weil einer von ihnen am Boden liegt. Dabei ist der längst wieder aufgestanden, da ist er sicher. Er hat sich ja bereits ein Stück weit aufgerichtet, das hat er im Rückspiegel noch gesehen. Der war überrascht und hat das Gleichgewicht verloren, mehr nicht. Hätte er angehalten, wär das Theater losgegangen. Stöhnen, Drohen. Il est gravement blessé, Monsieur. So schnell lässt er sich nicht mehr reinlegen. Dass sie sich die Autonummer gemerkt haben, ist unwahrscheinlich. Das ging viel zu schnell, und die Kurve hat sie ja dann gleich verschluckt. Die ist er los.

      Jele, weinst du?

      Sei froh, dass nichts passiert ist. Wenn ihm diese grinsenden Gesichter einfallen, drückt er gleich wieder aufs Gas. Klar, arme Teufel, und all das. Aber was kann er dafür?

      »Jele, die Sonne!«

      Im Rückspiegel sieht er sie untergehen. In zwei Stunden sind sie zu Hause.

      18

      Er hat es versucht, aber sie nimmt nicht ab. Er hat sich sogar notiert, was zu sagen ist: Vergiss den Typen. Glaub mir, er ist schon wieder aufgestanden, als wir in die Kurve bogen. Ich hab’s im Rückspiegel gesehen.

      Sie hat geweint auf der Heimfahrt, das hat er schon gemerkt, sie hat so getan, als schaue sie aus dem Fenster, leicht von ihm abgewandt, hat sich mit dem Handrücken so beiläufig ans Gesicht gelangt, immer wieder.

      Und sie hat so laut geschwiegen, dass er es jetzt noch hört.

      Sieben Hefte hat er jetzt korrigiert, aber er muss nochmals drüber. Wenn der Gedanke an gestern wieder anfängt zu plärren, dann bleibt er mitten im Lesen stehen und weiß nachher nicht mehr, was er bereits gelesen hat.

      Eigenartig, dass sie nicht zu Hause ist.

      Er steht auf, um das Automatenfoto zu suchen, schaut nach in allen Jackentaschen, irgendwo muss es doch noch sein. Er hat es eingesteckt, als es noch feucht war, hoffentlich nicht ins Hemd, das ist bereits in der Wäsche. Er will Jeles Gesicht sehen, jetzt.

      19

      Diese Höflichkeit ist nicht auszuhalten. Diese Hartgummiwörter: dankegut, gerneja. Sonst sagt sie nichts. Wenn er nichts sagt, dröhnt eine Pause. Statt aufzulegen, ist sie höflich. Ins Kino, Jele? Wenndumeinst. Der schottische Film, Jele? Warumnicht. Magst du wirklich, Jele? Ichdenkeschon.

      Also, dann.

      Er hat sich vorgestellt, wie er sie beim Eingang umarmen wird, aber sie ist bereits im Foyer und redet auf eine braungebrannte Frau ein. Sie sagt: »Luise, das ist Rocco. Luise war gerade in Kuba.«

      Dass man auf Kuba Reis mit schwarzen Bohnen Moros y Christianos nennt, ist ihm egal. Er möchte Jele endlich ins Gesicht schauen. Er schafft es nicht, die ledrige Luise ist dauernd im Weg. Und schon fängt der Film an, sie sitzen im Dunkeln, Jele schaut beharrlich geradeaus, ihr Profil ist ein dunkler Scherenschnitt.

      Dass im Film gerade sanft ein Falter landet,