Er fühlte sich sinnentleert, ausgebrannt. Monatelang brauchte er, um neuen Lebensmut zu schöpfen. Dann kaufte er den Bauernhof und fing an zu malen.
Johannes litt sehr unter dem Verlust. Es war für ihn ein absoluter Einschnitt in seiner Seele. Manchmal fühlte er sich wie auseinandergerissen. Damals hatte er durchaus mit Gott gerungen und Gott angeschrien: warum verhinderst du das Leid nicht?
Zuerst kam die Trauer, dann die Einsicht. Ja, die Einsicht, dass es nicht Gott ist, der uns all das Schreckliche, dieses ganze Leid zumutet.
Das Leid ist in seinem Kern, seinem ganzen Ursprung nach nicht Gott gewollt. Als diese Gewissheit in ihm reifte und immer mehr Raum einnahm, ahnte er auch etwas von der Liebe Gottes.
Glaube, das war etwas, das ihn seit seiner frühesten Kindheit begleitete, das ihm Halt gab und seinem Leben Sinn verlieh. Seit er denken konnte, hatte er sich regelmäßig mit der Frage nach Gott auseinandergesetzt. Seine Eltern hatten ihn in den Sonntagsgottesdienst geschleppt. Doch für ihn war es nie Tradition, oder Ritual, es war ihm schon früh ein Bedürfnis, sich selbst mit den tiefsten Dingen seiner menschlichen Existenz auseinanderzusetzen. In allerfrühester Kindheit schon stellte er sein Leben bewusst unter Gottes Herrschaft. Der Tod Jesus Christi berührte ihn bis in das Innerste seines Seins. Er wusste, dass ein Leben auf dieser Welt ohne Güte Gottes nicht möglich war.
Johannes zehrte so sehr von der Barmherzigkeit Gottes, dass sich für ihn die Frage nicht stellte, ob Gott diesen Schicksalsschlag zugelassen hatte.
Seiner Ansicht nach ließ Gott so etwas nicht zu. Denn er glaubte an einen liebenden Gott. Er besaß ein tiefes Wissen in sich selbst, dass diese Welt von den Mächten der Finsternis umschlungen wurde. Warum das so war, wusste er nicht. Er ahnte, dass dieses Geheimnis auf Urzeiten zurückgeht, auf einen Ort, auf eine Zeit, die mit unserer jetzigen Welt nichts mehr zu tun hatte.
Wenn aber in dieser Welt das Böse die Macht hatte, musste sich der Mensch nicht wundern, wenn Leid, Schmerz, Krankheit und Tod sich ereigneten. Vielmehr musste sich der Mensch wundern, wenn all dies nicht geschah. Tiefste Verzweiflungen, Depressionen, Wut und Schmähungen waren leider normale Dinge, die zwangsläufig geschahen.
Liebe und Freude waren das Außergewöhnliche. Sie gehörten zu den Dingen, die Johannes bei sich „Gottes Barmherzigkeitstropfen“ nannte.
Glück in dieser Welt – das war Gnade in seiner Reinform.
Johannes meditierte viel. Da er allein lebte, ergab es sich ganz von selber, dass er den ganzen Tag über mit Gott im Gespräch blieb. Er selbst empfand sein Leben nicht als einsam, sondern als ausgefüllt und bereichernd. Ausgefüllt deshalb, da er als Kunstmaler gut im Geschäft war. Seine Bilder verkauften sich, er hatte sein Auskommen. Aus diesem Grund kamen auch immer wieder Leute zu ihm auf den Hof, die sich seine Kunstwerke anschauen wollten. Dann organisierte er auch hin und wieder eine Ausstellung. Damit war er genug ausgelastet. Mehr wollte er auch gar nicht.
Bereichernd deshalb, weil er ein sehr ausgeglichenes Leben führte. Neben seiner Arbeit blieb ihm sehr viel Zeit für geistliches Leben. Das bestand bei ihm in der Hauptsache aus Gebet und dem Lesen in der Bibel. Sein Glaube wurzelte tief in seinem Herzen. Trotzdem kannte er Zeiten, in denen er sich den Glauben am liebsten ausgerissen hätte. Wo er mit Gott gerungen hatte, wie einst Jakob. Wo er ganz nahe dran war, seinen Glauben wegzuwerfen und wo ihn Gott doch wieder einholte, wo er spürte wie sein Glaube ganz ohne sein Zutun in ihm weiterglimmte, ein letztes Flämmchen zwar, aber eines das trotzdem nicht verlöschte. Er spürte, wie da etwas in ihm war, ein „ich-glaube-trotzdem-Glaube“. Ja, Johannes Wohlleben war an die äußersten Grenzen seines Ichs und seines Glaubens geführt worden. Der Verlust seiner Familie bedeutete für ihn eine absolute Grenzerfahrung und trotzdem hielt er am Ende am Glauben fest. Auch deshalb, weil er wusste, dass nicht Gott hinter all dem Leiden steckte.
Hin und wieder besuchte er einen Gottesdienst. Aber es gab keine Gemeinde, die ihn wirklich als Gemeindeglied hätte bezeichnen können. Denn er hielt sich bewusst nicht zu einer bestimmten Gemeinde. In früheren Zeiten wäre Johannes wahrscheinlich Eremit geworden. Er hielt viel vom Beten und Arbeiten, weniger von der eigenen Präsenz in einer Gemeinde.
Darum wurde er von manchen auch misstrauisch angesehen. Es gab einige, die die Ernsthaftigkeit seines Glaubens in Frage stellten. Doch er wusste: Gott sieht das Herz an. Nur das zählt.
Er hatte einen guten Freund, nämlich den Pfarrer einer größeren Kirchengemeinde. Der kannte ihn gut. Natürlich war er auch nicht gerade davon begeistert, dass Johannes seiner Gemeinde nicht den eindeutigen Vorzug gab und sich nicht zumindest einmal in der Woche in seinen Gottesdiensten blicken ließ. Doch er kannte Johannes gut genug, um zu wissen, dass das eben seine Art war, den Glauben zu leben. Und er war klug genug, um das zu akzeptieren.
Pfarrer Gottfried Birkner kam manchmal zu Johannes raus. Dann saßen sie auf der Bank vorm Bauernhaus, oder innen in der Stube, tranken ihr Bier und redeten buchstäblich über Gott und die Welt.
„Was bist du eigentlich?“, wollte Gottfried wissen und setzte seinen Bierkrug an die Lippen. „Katholisch, evangelisch, freikirchlich, oder was?“
Spöttisch verzog Johannes die Lippen. „Du weißt doch, was ich bin.“
Gottfried nickte. „Und du weißt, was ich meine“
Johannes umfasste seinen Krug und stieß mit Gottfried an. „Das sind doch alles nur Begriffe. Du kennst meine Einstellung. Es gibt nur christlich.“
Das war die Auffassung von Johannes. Er fand es gut, dass alle Kirchen ihr eigenes Profil hatten.
Wichtig war doch nur, dass Jesus im Mittelpunkt stand. Solange dieser Mittelpunkt stimmte, war es doch egal, welche Richtung dem Suchenden den Weg dorthin wies.
„Aber unsere Gemeinde…“, begann Gottfried.
Johannes stand auf, um den leeren Bierkrug neu zu füllen. „Ganz ehrlich Gottfried, auch ihr seid nicht die einzigen, die Jesus im Mittelpunkt hat. Aber deine Predigt letzte Woche… die war sehr gut. Hat mir gefallen.“
Damit wechselte Johannes das Thema. Er wollte sich mit Gottfried nicht anlegen. Dazu mochte er ihn viel zu gern.
Zwei Tage nach diesem Gespräch lachte die Sonne vom wolkenlosen Himmel und Johannes beendete seine Arbeit früher als geplant. Die Hitze ließ ihn ermüden.
Darum beschloss er den schönen Tag anders zu nutzen und sich im nahe gelegenen kühlen Wald zu erholen. Da er einen längeren Spaziergang plante, holte er sich eine Wasserflasche, die er in einem kleinen Rucksack verstaute und machte sich dann auf den Weg. Der Ausflug gestaltete sich dann doch anstrengender als er gedacht hatte. Es war ziemlich heiß und der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht. Das T-Shirt klebte schon am Rücken. Auf einer Lichtung fand er einen quer liegenden Baumstamm. Dort setzte er sich und öffnete die Wasserflasche. In großen Schlucken sog er gierig das lauwarme Nass in sich hinein.
Er schraubte die Flasche sorgfältig wieder zu und verstaute sie im Rucksack, den er neben sich auf den Boden stellte. Die Knie angewinkelt saß Johannes auf dem Baumstamm und ließ die angenehme Waldluft, die Stille, das gelegentliche, leise Rauschen der Blätter und das Summen der Hummeln auf sich wirken.
Schmetterlinge tanzten in der Sonne, eine Libelle umkreiste ihn auf der Suche nach dem nächsten Tümpel. Eine Eidechse huschte vor ihm hinein ins dichtere Gebüsch.
Auf einmal – kam es ihm nur so vor, oder war es wirklich so – verlor die Sonne ihren Schein. Alles wurde allmählich dunkler, so als tauchte er in einen alten Schwarz-Weiß-Film ein. Er fühlte sich eingehüllt in eine Wolke, die ihn erst langsam, dann immer schneller in einen Strudel riss. Ihm war als flöge er durch Landschaften und Zeiten. Nichts hatte mehr Bedeutung, Orte genauso wenig wie die Zeit. Gegenwart, oder Vergangenheit, oder Zukunft. Wer wusste das?
Wer war er eigentlich? Selbst das wurde unbedeutend. Er war zu einem Staubkorn inmitten von Raum und Zeit geworden. Nichts schien mehr wichtig. Nichts von Bedeutung. Er fühlte sich seltsam losgelöst, schwerelos. Er war nicht mehr Körper, nur mehr Geist.
Da