Das Leuchten am Rande des Abgrunds. Stella Delaney. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stella Delaney
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746776187
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diese Fremde nicht aus dem Wasser gezogen, um sie dann einfach zurückzulassen.

      Er spürte auch jetzt noch den fast schwerelosen Körper in seinen Armen und das Wasser, das durch seine Kleidung drang. Irgendwie beruhigte ihn diese Erinnerung, und er hielt sich daran fest. Presste sie an seine Brust, um die Leere zu füllen.

      »Ich sage das nicht, um dich zu verletzen. Sondern, weil ich dich kenne. Vielleicht sogar besser als du selbst.« Zoe streckte die Hand aus, und legte sie auf Sams Arm. »Du brauchst jemanden. Du brauchst Leute um dich herum. Diese Einsiedler-Nummer ist nichts für dich.«

       Warum sagst du das? Warum kümmert es dich plötzlich? Du hast dich doch die letzten Monate nicht um mich gesorgt. Sechs Monate, drei Wochen, vier Tage – und ja, ich weiß das so genau.

      »Anscheinend kennst du mich nicht. Ich komme sehr gut alleine zurecht.« Ohne dass er es merkte, wanderte seine Hand zu dem Ring, den er um den Hals trug. Er drehte ihn langsam und bedächtig zwischen den Fingern.

      »Okay. Dann überleg es dir einfach nochmal. Es ist am Ende ja deine Entscheidung.« Sie bewegte sich bereits auf die Türe zu. »Aber überleg nicht zu lange. Die Zeit läuft.«

      Dann schloss sich die Türe hinter ihr und Sam starrte noch minutenlang auf das dunkle Holz. Am liebsten hätte er dagegen geschlagen, wieder und wieder, bis warmes Blut über seine Hand liefe.

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      Zum gefühlt zehnten Mal drehte er sich von einer Seite auf die andere. Er war todmüde, doch sein Verstand hellwach. Normalerweise half es, die Augen zu schließen, sich auf seinen Atem zu konzentrieren und auf das Gefühl, wie ein Baby im Mutterleib von den Wänden um ihn herum beschützt zu werden. Doch heute funktionierte es nicht. Heute fühlte er sich wie in einem Sarg.

      Irgendwann schob Sam die zentnerschwere Decke zu Seite, stemmt sich von der Matratze hoch und wankte durch den Raum. Zum Fenster, vor dem nur dichte Schwärze stand, obwohl die schweren Vorhänge, die den Tag über die Hitze abhielten, zurückgezogen waren. Zurück in die Mitte des Zimmers. Und dann stand er vor Alexis’ Tür. Alexis’ Tür, die früher schlicht die Tür zu seinem Schlafzimmer gewesen war.

      Seine Hand verharrte in der Luft. Klopfen? Nicht klopfen? Wieder weggehen? Trotz der Kühle im Raum fühlte er plötzlich Schweiß auf seiner Stirn. Die Tür war geschlossen gewesen, seit Zoe gegangen war. Und er hatte die Botschaft akzeptiert. Weil es lange genug gedauert hatte, Alexis dazu zu bringen, solche Dinge zu tun.

       »Das grüne Shirt, oder lieber das blaue?«

       »Such du aus.«

       »Nein, du. Du musst es schließlich anziehen.«

       Alexis sah ihn mit großen Augen an, in denen Verzweiflung stand. Als hätte Sam sie gefragt, ob sie lieber über glühende Kohlen laufen wollte oder über Glasscherben.

       »Probier es doch mal an.« Sam hielt ihr das blaue Shirt entgegen, das sie mit sichtbarer Erleichterung annahm.

       »Und? Gefällt es dir?«

      Es war, als hätte Alexis nie gelernt, eigene Entscheidungen zu treffen. Er wollte sich gar nicht vorstellen, woher das kam. Wer dafür verantwortlich war, und warum. Es gab in diesem Fall nur Antworten, die er nicht hören wollte.

      Aber hätte er vorhin nicht trotzdem nachsehen sollen? Wenigstens fragen, durch die geschlossene Tür? Langsam und vorsichtig drückte er die Klinke nach unten.

      Im Zimmer bildete das Licht einer Gaslampe eine weite Kuppel. Alexis saß aufrecht im Bett, in ein viel zu großes dunkelgrünes Sweatshirt gehüllt und zusätzlich mit der karierten Bettdecke um die Schultern. In der Hand hielt sie die Haarbürste, die Sam ihr vor etwa einer Woche mitgebracht hatte. Sie fuhr noch einmal durch die glatten Haare, und ließ sie dann sinken. Als sie ihn ansah, schien ihr Gesicht nur aus Augen zu bestehen.

      »Hey«, flüsterte Sam.

      »Hey«, flüsterte Alexis zurück.

      Vorsichtig nahm er neben ihr auf dem Bett Platz, wie es seine Mutter früher getan hatte, wenn er einen Albtraum gehabt hatte. Er wehrte sich sofort gegen das Bild, konnte es aber nicht völlig abschütteln.

      Die Stahlfedern knirschten unter seinem Gewicht. Das Verlangen, Alexis zu berühren, den Arm um die schmalen Schultern zu legen, war übermächtig.

      »Kannst auch nicht schlafen, was?« Sam versuchte, seiner Stimme einen aufmunternden Klang zu geben. »Was ist denn los?«

      Sie antwortete nicht. Er konnte ein feines Zittern spüren, das von ihr auszugehen schien.

      »Du musst doch keine Angst haben. Du bist in Sicherheit.«

      Alexis sah ihn an, als wolle sie ihm glauben. Und Sam fühlte sich so hilflos, dass ihm fast schwindlig wurde.

      Er rückte näher an sie heran, als könnte er sie durch seine Nähe beruhigen wie einen winzigen Welpen oder ein Kätzchen. Und zu seiner Überraschung lehnte sie den Kopf an seine Schulter. Ihre Haare fühlten sich glatt und kühl an. Er musste wieder an die Nacht denken, in der er sie mit nach Hause gebracht hatte. Getragen, wortwörtlich. Dann hatte er hier neben dem Bett gestanden.

       Der Bezug des Kopfkissens war geblümt, der Bezug der Bettdecke dagegen kariert. Nichts passte zusammen, aber hier musste man eben nehmen, was man bekam.

       Sein Blick streifte kurz das bleiche Gesicht, die geschlossenen Augenlider - dunkel, fast bläulich, zitternd - und verweilte dann kurz auf den hellen Haarsträhnen, die immer noch feucht wirkten.

       Neben dem Bett befand sich ein weißer Holzstuhl, der ebenso wenig zu dem metallischen Bettrahmen passte wie die beiden Bezüge zueinander. Über der Lehne hing ihr Kleid zum Trocknen.

       Seine Finger fuhren über den Stoff. Es war ein ungewöhnliches Gewebe, dicht und schwerelos. Erinnerte an Fallschirmseide, irgendwas Militärisches. Er drehte es in den Händen, suchte nach einem Schild, einem Hinweis. Aber da war nichts.

       Sorgfältig drapierte er das Kleid wieder über dem Stuhl, und sah zum Bett hinüber. Etwas hatte sich geändert, und er brauchte einen Moment, bis er erkannte, was es war. Einer ihrer Arme lag jetzt auf der Decke, die er vorhin über sie gebreitet hatte. Die Hand war leicht geöffnet, und etwas war herausgefallen. Etwas Zerknülltes, das sie offensichtlich die ganze Zeit festgehalten hatte.

       Vorsichtig hob er den Gegenstand auf, ohne dabei die schlanken Finger zu berühren, und glättete ihn in der Hand. Es war ein Armband aus dünnem Plastik. Und etwas stand darauf.

       Ein merkwürdiges H ... oder ein A? Sam kniff die Augen zusammen. Dann ein L, etwas, das er beim besten Willen nicht erkennen konnte, ein X, ein Strich und ein seltsam eckiges S.

       »Alexis«, flüsterte er.

       Dann fühlte er sich beobachtet, und hob den Blick. Für eine Weile sahen sie sich nur an. Sam versuchte, in den Tiefen ihrer Augen etwas zu erkennen, sah aber nur Schwere und Erschöpfung. Umgekehrt hatte er das Gefühl, sein ganzes Leben läge offen und sie könne ihn lesen wie ein Buch.

       »Heißt du so? Alexis?«

       Schweigen. Ihm wurde klar, dass er ja nicht einmal wusste, ob sie ihn verstand.

       »Du kannst mich nennen, wie du möchtest.« Eine Stimme, die vollkommen passte. Schwerelos und melodisch. Ein kleines Wunder in diesem Raum, in dem nichts zu passen schien.

       »Okay, Alexis. Ich bin Sam.«

       Er steckte die Hand aus, doch Alexis ergriff sie nicht.

       »Ich sollte dir wohl danken, Sam.«

       »Aber du tust es nicht?« Die Worte waren heraus,