Kuss der Todesfrucht. Agnes M. Holdborg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Agnes M. Holdborg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738028270
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sich für den Kauf eines neuen Autos. Gleich morgen würde sie sich als Erstes bei ihren männlichen Kollegen schlaumachen. Schließlich hatte sie sich nie groß für Autos interessiert. Da wären deren Ratschläge bestimmt hilfreich. Und übermorgen, am Samstag, da hätte sie ausreichend Zeit, um sich einen neuen Wagen anzuschaffen. Einen niegelnagelneuen oder fast neuen – einen Jahreswagen. Ja, irgend so etwas sollte es sein.

      Zufrieden mit ihren Plänen band sie sich das trocken geföhnte Haar zusammen. Die eingehende Betrachtung im Spiegel nach dem Zähneputzen brachte keine neuen Erkenntnisse über Falten. Gott sei Dank! Sie betupfte die Partie um ihre großen hellgrünen Augen mit einem speziellen Gel und bedachte das restliche Gesicht, samt dem etwas spitzen Kinn und der Stupsnase, mit einer Creme für die Nacht. Danach schlüpfte sie in ihren Kuschelschlafanzug und machte es sich im Bett mit Ingwertee und Fernsehen gemütlich.

      Wieder hatte sie einen Tag zu Ende gebracht. Das erfüllte sie mit Stolz, denn sie wurde immer erfolgreicher darin. Trotz vieler Jahre der Erniedrigung und trotz des verlorenen Glücks hatte sie einen aufregenden Tag sehr gut über die Runden gebracht.

      Jetzt galt es, sich der Nacht zu stellen.

      Zeitlos

       Bumbum, bumbum – Er kommt dich holen!

       Bumbum, bumbum – Schleicht sich an auf leisen Sohlen.

       Bumbum, bumbum – Er will dich beißen!

       Bumbum, bumbum – Wird dich bald in Stücke reißen.

       Bumbum, bumbum – Spür seinen Atem!

       Bumbum, bumbum – Sollst in deinem Blute waten.

       Sein Fell so warm! Sein Blick so kalt!

       Er kommt dich holen, und zwar bald!

       Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum ...

       Nein! Hilf mir!

       Sie spürt die scharfen Krallen, hört das leise Grollen, riecht seinen Hunger, seine Lust – und weiß, Flucht ist sinnlos.

       Ein Baum! Hoffnung!

       Ihre Krallen schlagen in den Stamm. Nur noch ein Stück! – Doch da schnappt er zu, bringt sie erbarmungslos zu Fall ... lässt sie stürzen ... immer tiefer ... und tiefer ...

      Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum ...

      Waren es ihre Herzschläge, die sie endlich erlösten und ins Hier und Jetzt zurückbeförderten, oder das monotone Ticken des alten Weckers? Manuela wusste instinktiv, es war ihr Herz. Sein heftiges Klopfen – Bumbum – hatte sie zurückgeholt, zurück in ihre Welt, wo ihr nichts passieren würde. Hoffentlich!

      Um vier in der Früh tappte sie ins Bad, um sich den dünnen Schweißfilm von der Haut zu schrubben.

      Nichts sollte sie an die Nacht erinnern! Nichts durfte davon an ihr haften bleiben!

      Fast hätte er mich gehabt, durchfuhr es sie. Für einen Augenblick lehnte sie die Stirn an das kühle Glas der Duschkabine, bevor sie abrupt das Wasser andrehte. Aber er kriegt mich nicht!, tröstete sie sich.

      Müde nahm sie ihren weiteren Morgenrhythmus auf, der sie für den kommenden Tag aufbauen und stärken sollte: Cremen, Föhnen, Schminken, Anziehen.

      »Fast fünf Stunden«, überlegte sie laut, während sie die blank schimmernde Küche betrat. In ihrer Stimme schwang Zufriedenheit. Sie hatte die Nacht überstanden, darüber hinaus fast fünf Stunden Schlaf gefunden.

      Die Kaffeemaschine brodelte und zischte, bevor sie ihr herrlich duftendes Gebräu ausspuckte. Mit der Tasse in der Hand stellte Manuela sich auf ihrem winzigen Balkon dem Sonnenaufgang entgegen. Dabei versuchte sie, sich einzig auf den blutroten Feuerball zu konzentrieren, der einem goldschimmernden Schleierdunst entstieg.

      »Auf den neuen Tag, Manuela. Du schaffst das.« Dieses Mantra flüsterte sie nun schon seit mehr als vier Monaten jedem Tagesanbruch zu. Niemand kannte es. Niemand wusste es. So sollte es auch bleiben.

      Seufzend kehrte sie in die Küche zurück, wo sie das Radio anstellte, um den Sechs-Uhr-Nachrichten zu lauschen:

      »Guten Morgen, liebe Zuhörer, es ist Samstag, der ...« Die restliche Ansage ging in dem Rauschen unter, das sich explosionsartig in Manuelas Hirn ausbreitete. Rauschen, Schwindel, schlagartig einsetzende rasende Kopfschmerzen übernahmen das Regiment, machten es ihr unmöglich, einen einigermaßen klaren Gedanken zu fassen.

      »Samstag?«, rief sie aus. »Wieso Samstag? Heute ist Freitag, verdammt nochmal, Freitag, Freitag, Freitag!«

      Der Schwindel wurde stärker, ließ sie taumeln, sodass sie sich am rettenden Esstisch festhalten, dann hastig auf einem Küchenstuhl Platz nehmen musste. Trotz des Dröhnens im Kopf versuchte sie verzweifelt, Klarheit darin zu schaffen.

       Ruhig, Manuela, ganz ruhig! Denk nach!

      Wie sie es geübt hatte, atmete sie wiederholt konzentriert ein und aus, bis tatsächlich etwas Ruhe einkehrte. Erst jetzt überlegte sie weiter: Gestern war Donnerstag, ganz sicher!

      Sie hatte gestern noch mit ihrem Chef besprochen, was heute – am Freitag! – an Geschäftsberichten und Vertragsvereinbarungen anstünde. Sie waren sich einig gewesen, dass es ein gemütlicher Wochenabschluss werden würde, ohne Stress und Überstunden. Verflucht, heute konnte nicht Samstag sein, niemals! Denn das würde ja bedeuten, dass ... Die Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt, fuhr sie sich mit den Händen durch die sorgfältig gestylte Frisur und über das Make-Up.

      Der nächtliche Traum kam ihr in den Sinn. Der Traum, den sie schon so lange nicht mehr geträumt hatte und der nun keinerlei andere Rückschlüsse zuließ: Er hatte sie gefunden und ihr Zeitgefüge damit wieder einmal durcheinandergebracht.

      Nicht nur ihr Zeitgefüge, gestand sie sich seufzend ein. Alles, einfach alles, was sie sich in den letzten vier Monaten so sorgsam erarbeitet hatte, war in diesem Augenblick hinfällig geworden. Dabei hatte sie gerade gestern Abend das gute Gefühl genossen, auf dem richtigen Wege zu sein, ihre Erinnerungen kontrollieren zu können, Tabuzonen zu umschiffen.

       Alles für die Katz!

      Nun gestattete sie ihren Gedanken freien Lauf, wusste sie doch, dass er gleich kommen würde, um sie zurückzuholen. Sie unterdrückte einen weiteren Seufzer, stellte sich stattdessen der Erinnerung:

      ... Nie hatte sie so gezittert, nein, geschlottert vor Angst und Entsetzen.

      Aber warum eigentlich? Jetzt gab es doch gar keinen Grund mehr für Angst – Angst vor Schmerzen und Qual.

      Er war tot. Lag da am Boden, mausetot! Erstochen mit dem Küchenmesser, das er gegen sie gerichtet hatte, mit dem er sie hatte niedermetzeln wollen, nach fünf Jahren Ehe!

       Oh Gott, er ist tot!

      Ihr Blick glitt von seiner blutüberströmten Gestalt zu ihren Händen. Mit einem gellenden Schrei ließ sie das Messer fallen, rannte ins Bad und erbrach sich dort auf dem schneeweißen Fliesenboden.

      Duschen, kam es ihr in den Sinn, ich muss mich duschen.

      Nichts sollte sie daran erinnern! Nichts durfte davon an ihr haften bleiben!

      Sie stellte sich samt Kleider unter den siedend heißen Wasserstrahl, ohne die Zeit wahrzunehmen.

      Die Zeit schien ausgelöscht. All die Jahre des Ehemartyriums. Die Erniedrigungen, zerstörten Träume, Blutergüsse samt gebrochenen Rippen. Alles getarnt unter langärmligen Shirts, hinter immerwährendem, aufgesetztem Lächeln und dem Bilderbuchpaar, das sie beide nach außen hin abgegeben hatten. Alles verging, verschwamm, und es wurde dunkel ...