„Sag‘ mal Frenkel“ ging ihn Frank Walther einmal an „hast du überhaupt gedient?“
„Nein.“
„Und warum nicht?“
„Ich habe den Dienst aus Gewissensgründen verweigert. Ich schieße nicht auf Menschen.“
„Aber da sind dir doch Unmengen schmucker Burschen entgangen.“
„Wie meinst du das?“
„So wie ich es sage.“
„Lass‘ mich doch in Ruhe.“
„Oder soll ich es noch genauer erklären?“
Schweigen.
„Hör doch jetzt auf damit“ sprang Kunze Frenkel bei, denn er wusste, dass der Mann in Mathe fit war und ihm helfen konnte, „lass‘ Peter in Ruhe.“
„Interessiert du dich etwa für ihn“ fragte Walther anzüglich.
„Halte jetzt die Klappe und kümmere dich um deine Dinge.“
Erwin Kunze wohnte zu Beginn seiner Berufstätigkeit noch bei seinen Eltern und brüstete sich zu Hause mit vorgeblichem Arbeitsstress und seiner hervorgehobenen Stellung in der Abteilung. Dann schwadronierte er über Auf- und Abzinsung und andere, seinen Eltern vollkommen unbekannte und exotisch klingende Begriffe. Das war nicht weiter verwunderlich, denn Kunzes Mutter hatte als Küchenhilfe naturgemäß wenig mit solchen Dingen zu tun, sein Vater als Müllkutscher ebenfalls nicht. Erwin Kunzes Bühne für seine Auftritte lag somit überwiegend im privaten Bereich. Im Büro versuchte er zwar den Zampano zu geben aber war eigentlich nur ein Maulheld, der schon bei der kleinsten Herausforderung mächtig ins Rudern kam.
Diese Blenderei nutzte Kunze auch Frauen gegenüber. Er sah nicht übel aus und hatte wegen seiner Redseligkeit durchaus Erfolg bei den Damen. Seine Beziehungen hielten aber eigentlich nie länger als ein paar Wochen, dann hatten die Frauen erkannt, mit wem sie es zu tun hatten. Nur die bildhübsche aber strohdumme Inka Berger bekam davon nichts mit und hing an Kunzes Lippen, wenn der wieder einmal zu einem Vortrag über die Kompliziertheit des Bürolebens ansetzte und seine Rede mit für sie fremdartig klingenden Worten würzte. Inka Berger war tatsächlich mit außerordentlich wenig intellektuellen Talenten gesegnet, aber dafür eine Granate im Bett. Sie trieb Kunze im Schlafzimmer regelmäßig bis zur Weißglut, und dieser konnte in solchen Momenten gut und gern auf eine aus seiner Sicht gepflegte Konversation verzichten. Inka Berger war an Gesprächen auch nicht sonderlich interessiert aber fand beim Liebesspiel durchaus passende und Kunze anfeuernde schmutzige Ausdrücke. Da dieser Zustand der erheblichen sexuellen Befriedigung anfangs gar nicht abebbte war sich Kunze bald sicher, die Richtige gefunden zu haben.
Als er 25 Jahre alt war heirateten sie, mit 28 wurde er Vater eines Sohnes. Nach einer kurzen Pause setzte ihr Liebesleben dann wieder gewaltig ein und das war auch der Grund dafür, dass Erwin Kunze im Büro fortlaufend schlüpfrige Geschichten aus dieser Sphäre seines Privatlebens von sich gab, was ihm dann den Titel „Der geile Bock“ einbrachte.
Vorbereitung des Betriebsausfluges
2014 würde sich in knapp sechs Wochen das 60jährige Gründungsdatum der Firma jähren. Friedhelm Richter war nunmehr 84 Jahre alt und im Jahr 1995 mit 65 Jahren aus der Firma ausstiegen um den Ruhestand genießen. Da der Unternehmer seine Firma im Familienbesitz behalten wollte hatte er das Steuer damals notgedrungen an seinen Schwiegersohn Hubertus Kriegel übergeben müssen, obwohl er dem Mann nicht allzu viel zutraute. Seiner Tochter traute er aufgrund der Erfahrungen in den letzten Jahren gar nichts zu. Zur großen Verwunderung des Firmengründers war das Unternehmen immer noch am Markt und die Geschäfte liefen scheinbar gut, denn er bezog aufgrund seiner Gesellschafteranteile in Höhe von 49 Prozent monatlich üppige 1.500 Euro zusätzlich zu seiner Pension, denn er hatte all die Jahre freiwillig in die Rentenkasse eingezahlt. Eigentlich hätten es so um die 3.000 Euro sein müssen, aber Hubertus Kriegel ging davon aus, dass der alte Mann aufgrund seiner Senilität sowieso nichts mehr mitbekam. Kriegel und Richters Tochter hielten zusammen 51 Prozent am Unternehmen und strichen so im Schnitt 6.000 Euro monatlich ein, da sie die eigentlich Richter zustehenden Gelder mit einkassierten.
Friedhelm Richter würde es nicht nehmen lassen den besonderen Tag des Firmenjubiläums entsprechend mit den Mitarbeitern zu feiern, und er plante einen zweitägigen Betriebsausflug mit Übernachtung. Der Transfer hin und zurück sollte mit einem Bus erfolgen. Start sollte an einem Sonnabend gegen 14 Uhr sein, dann könnte man, wer wollte, am Nachmittag noch etwas wandern gehen. Wer dazu keine Lust hätte könnte sich die Zeit anderweitig vertreiben. Abends stellte sich Richter ein geselliges Beisammensein vor. Zurück sollte es nach dem Frühstück am nächsten Tag gehen. Das alles wollte er aus seiner eigenen Schatulle finanzieren. Da er nahezu täglich immer vergesslicher wurde (und seine Frau schon verstorben war) fehlte eine ordnende Hand in seinem Leben. Seine Tochter und sein Schwiegersohn interessierten sich nicht die Bohne dafür wie es Friedhelm Richter ging. Zumindest hatten sie ihm wenigstens eine polnische Dienstleistungskraft besorgt, die einmal täglich nach dem Rechten sah und ihn bekochte, Einkäufe, Reinigungsarbeiten und andere Dinge erledigte. Bezahlt wurde sie von Richter.
Richter war körperlich noch ganz gut drauf, bloß seine geistigen Fähigkeiten verblassten immer mehr. Er selbst bekam das nicht mit und hielt sein Verhalten für absolut normal. Um sich gedanklich stimulieren zu können hatte er vor einige Jahren damit angefangen, sich mit unverdünntem Gin die nötigen Anreize zu holen. Friedhelm Richter war kein Trinker, aber er hatte seine Rituale. Den ersten Gin trank er nach dem Mittagessen, um danach einige Zeit zu Ruhen. Nach dem Abendbrot schenkte er sich den zweiten ein und vor dem Schlafengehen gab es den dritten. Richter schlief tief und fest, aber nie länger als sechs Stunden. Da er gegen 22 Uhr das Licht ausmachte war er gegen vier Uhr früh wieder munter. Von da an bis zum Frühstück lag er über allerlei nachdenkend wach und hatte in der letzten Zeit ganz brauchbare Ideen für den Ausflug gehabt. Das Problem war bloß, dass er bis zum Aufstehen alles schon wieder vergessen hatte.
Eines Tages war er dann auf die Idee gekommen, seine Einfälle auf kleinen Karteikarten zu notieren. Das lief anfangs ganz gut, aber dann konnte sich Richter nicht mehr daran erinnern, wo er die Karteikarten abgelegt hatte. Auch seine Haushalthilfe wurde nicht fündig, da der verwirrte Mann die Zettel an den unmöglichsten Orten abgelegt hatte. Richter durchforstete jedes Mal sein Gehirn, aber leider ohne Ergebnis. Also genehmigte er sich von da an nach der Mittagspause einen weiteren Gin, der sein Erinnerungsvermögen auf Trab bringen sollte. Da er tatsächlich an einem Tag fündig wurde, schien das mit dem Gin eine gute Idee gewesen zu sein. Richter hatte sich auf der einzigen wieder entdeckten Karteikarte folgendes notiert:
Einen Bus anmieten
Hotelzimmer (Doppelzimmer für die Angestellten sowie seine Tochter und seinen Schwiegersohn) buchen
Einzelzimmer für sich selbst und Gunter Kriegel buchen
Buffet buchen
Alleinunterhalter buchen
Das war der Rahmen, den die Veranstaltung haben sollte. Friedhelm Richters Geisteskraft war noch einmal kurz aufgeflammt und er hatte erst zum Telefonbuch, und dann zum Hörer gegriffen und sich über die Preise informiert. Er musste mit 35 Personen kalkulieren, denn zu den 30 Angestellten kämen er selbst noch, sowie Bettina, Hubertus und Gunter Kriegel dazu. Man bot ihm ein paar Tage später folgendes an:
Bus An- und -abreise für insgesamt 450 Euro
16 Doppelzimmer und 2 Einzelzimmer für insgesamt 540 Euro
Abend- sowie Frühstücksbuffet für insgesamt 550 Euro
Alleinunterhalter für 350 Euro
Das machte 1.890 Euro aber Friedhelm Richter wollte diesen Tag würdig begehen und nicht knausern.