Kapitel 5
Erste Freunde
Bumm! Bumm! Bumm! Die Wand wackelte und ich hörte Red meinen Namen rufen: „Flores, Flores! Bist du wach?“ Ich antwortete: „Ja, Alter, was willst du?“ Er rief: „Geh zu dem Loch in der Wand!“ Ich habe mittlerweile herausgefunden, dass es unter den Gefangenen üblich ist, mit der Faust an die Wand zu hämmern, um sich bemerkbar zu machen. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz, man hämmert erst an deine Wand, bevor man in deine Zelle schaut. Ich ging also zur Wand und Red sagte: „Hey, Mann, haben sie dich schon in eine Freizeitgruppe eingeteilt?“ „Nein, der Sergeant hat mir gesagt, dass ich erst mal alleine bleiben muss. Dieses Arschloch hat mir ernsthaft erklärt, dass ich erst in eine Freizeitgruppe kann, wenn ich mich gut verhalte und anpasse.“ Red erzählte mir, dass im Todestrakt die Freizeit normalerweise in Gruppen verbracht wird. Jeder Flügel hat seine eigene Gruppe. Drei Gruppen pro Flügel wechseln sich jede Woche ab, welche als erste morgens um 6:00 Uhr raus muss. Da diese Vorschriften ganz neu für mich waren, hörte ich aufmerksam zu. „Ja, Mann, Gruppenerholung ist okay, du gehst entweder in den Aufenthaltsraum oder bleibst jeden Tag für zwei Stunden draußen, immer von Montag bis Freitag. Die Jungs spielen Hand- oder Basketball und im Aufenthaltsraum gibt’s Brettspiele wie Schach, Dame, Domino, Scrabble und so weiter.“ „Echt? Das hört sich gut an.“ Ich mochte Handball spielen und freute mich schon darauf. Ich wusste jede Info zu schätzen, weil mir alles half, zu kapieren, wie es hier läuft. Ich fragte Red: „Bist du in einer Freizeitgruppe?“ „Ne, Mann, ich bin wie du auch in Einzelfreizeit. Ich hatte über die Jahre hinweg ein paar Probleme und dieser armselige Fettsack von Captain hat mich als Dank in die Einzelerholung gesteckt. Ach ja, du bist jetzt dran mit Duschen, Flores! Wir reden später weiter.“ Ich fand das cool und ich fand auch wichtig, was er mir erzählt hatte und wollte später gerne mit ihm weiterreden, aber erst nach dem Duschen.
Ich war als Nächster mit dem Duschen dran. Die Jungs aus der 3-Row gaben mir ein Paar Badeschlappen. Ich hatte auch meine Seife und mein Shampoo dabei. Die Dusche war an der Vorderseite des Flügels, neben dem Kontrollraum. Die Wachen kamen zu meiner Zelle und ich streckte kniend meine Arme und Hände nach hinten und ließ mir die Handschellen anlegen. Als ich zur Dusche kam, sah ich, dass es auch dort eine vergitterte Zellentüre mit Maschendraht darauf und einen Essensschlitz gab. Ich ging hinein und als die Tür zu war, streckte ich meine Hände durch den Schlitz, damit sie meine Handschellen lösen konnten. Einer der Wärter gab mir ein Handtuch und erklärte mir, dass ich so nach dem Duschen jeden Tag meine frischen Klamotten bekommen würde, aus der Wäschebox im Kontrollraum.
Als ich von den Wachen, die in dem Flügel arbeiteten, zur Dusche gebracht wurde, merkte ich, dass ich mit ihnen kein Problem hatte. Das war für mich nicht normal und ich fragte mich, ob es so bleiben würde. Irgendwie bezweifelte ich das - es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Ich wusste, dass es hier genauso Sadisten geben würde, Feiglinge, die ein paar Knöpfe drücken, um zu ihrem Nervenkitzel zu kommen und uns zu schikanieren. Ich musste lernen, dass es immer irgendwie eine Art von Missbrauch geben wird sobald einer die totale Kontrolle über einen anderen hat. Es wird immer irgendwelche feigen Proleten geben, die einen Kick durch das Quälen anderer bekommen. Es ist ziemlich simpel: Totale Macht verdirbt total.
Ich ging zurück zu meiner Zelle und konnte mich nun endlich hinlegen und ausruhen. Es war noch früh, aber ich wollte ins Bett gehen, damit ich für den nächsten Tag fit war. Ich legte meinen Kopf auf das Kissen und als ich am Einschlafen war, dachte ich darüber nach, wie der Todestrakt so war. Bis jetzt bin ich positiv überrascht gewesen von dem was ich vorfand.
Als der nächste Morgen anbrach war ich schon wach und bereit für den neuen Tag - ich wollte zur Erholung gehen, um die Lage zu checken. Ich wollte unbedingt alles wissen, was es über den Todestrakt zu wissen gab. Er war ja mein neues Zuhause und ich wollte sicher sein, dass ich nicht in irgendwelche Fettnäpfchen trete. Wenn man weiß wie die Dinge laufen, kann man einen Haufen Probleme vermeiden. Es sollte doch irgendwie möglich sein, die Zeit hier friedlich abzusitzen. Mit der Zeit wurde mir klar, dass der Todestrakt die höflichste Gesellschaft auf Erden ist. Alle behandelten einander freundschaftlich und mit Respekt. Warum? Weil man jede Respektlosigkeit vermeiden möchte. Alle wissen, dass Respektlosigkeit Grund genug sein kann, dass jemand die Fassung verliert und dich umbringt. Man weiß nie wie der andere tickt. Es ist es einfach nicht wert hier oder irgendwo anders zu sterben, nur weil man es nicht für nötig gehalten hat, jemandem den nötigen Respekt zu zeigen. Wir alle sollten unseren Mitmenschen den Respekt erweisen, den wir auch von ihnen erwarten.
Bald schon kam ein Wachmann zu meiner Zelle, um mich für die Erholung abzuholen. Er befahl mir meine Klamotten auszuziehen, um sie durchsuchen zu können. In dem gleichen osttexanischen Dialekt, den alle Leute, die hier arbeiteten, hatten, sagte er: „Zieh deine Sachen aus!“ Ich machte es, er schüttelte sie aus und gab sie mir zurück. Ich zog mich schnell wieder an und wollte endlich aus der Zelle raus.
Meine Zelle war direkt neben dem Bereich für die Einzelfreizeit, also wusste ich, wo ich hingehen musste. Er war nur ein paar Schritte von meiner Zelle weg und ich freute mich natürlich total darauf, raus zu gehen und frische Luft zu schnappen. Der Bereich war so klein, dass ich mir nur dachte, ich würde nicht mal einen Hund auf so einem kleinen Raum halten, aber nun war ich gezwungen mich auf einer Fläche von 10 mal 15 Fuß, kaum größer als meine Zelle, zu „erholen“. Es gab zwei „Ein-Mann-Bereiche“ nebeneinander mit je einem Basketball und einem Korb. Diese zwei winzigen Plätze waren eigentlich nur das Ende des großen Erholungsbereiches von unserem Flügel. Man hatte den hinteren Teil einfach von dem anderen abgetrennt. Ich war dort draußen ganz allein und begann, am Zaun auf und ab zu laufen, als die Metalltür des anderen Bereichs sich öffnete und ein Häftling herauskam. Die Wachleute schlossen die schwarze Stahltür an der Seite des Backsteingebäudes. Dann entriegelten sie den Türschlitz, durch den der andere Mann seine Hände streckte. Nachdem sie ihm die Handschellen abgenommen hatten, trat er an den Zaun und sagte: „Was geht ab, loco?“ Du bist doch der Neue aus Dallas, richtig? Ich hab sie gestern Nacht über dich reden hören. Ich heiße übrigens Mingo und komme aus Oak Cliff, loco, also auch aus D-Town.“ Er war Mexikaner. Das wusste ich schon seit er durch die Tür gekommen war. Leute aus Dallas sagen oft D-Town, eine Art Spitzname für unsere Stadt. Ich dachte, dass es mir in dieser Erholungsphase gut tun würde ein bisschen zu quatschen. „Ja, Mann“, antwortete ich, „ich bin Flores. Ich bin neu hier. Du bist auch aus Dallas? Cool Mann, in welcher Zelle bist du?“ „3. Reihe, Zelle 18. Also, wir sind aus der gleichen Stadt - wenn du irgendwas brauchst, sag mir einfach Bescheid und ich schaue, was ich für dich tun kann. Weißt du, Leute mit den gleichen Wurzeln müssen zusammenhalten. Wenn wir das nicht machen, wer dann? Verstehste du, was ich meine, loco?“
Mingo sprach mit einem starken spanischen Akzent. Als ich ihn reden hörte, wusste ich, dass er viel Spanisch sprach. Ich fing langsam an mich wohler und wegen meiner Herkunft besser zu fühlen. Ein berühmter Gefangener sagte einmal: „Das Gefängnis raubt dir nicht nur deine Freiheit, es versucht, dir auch deine Identität wegzunehmen. Jeder trägt die gleichen Klamotten, isst das gleiche Essen und lebt nach dem gleichen Tagesablauf. Es ist von der Definition her eigentlich ein reiner, autoritärer Staat, der keine Selbständigkeit und Individualität duldet. Als ein Freiheitskämpfer, ein Krieger, muss man gegen die Versuche des Gefängnisses, eine dieser Qualitäten zu rauben, kämpfen.“ Das sind wahre Worte von Nelson Mandela und sie beschreiben perfekt die Zustände und Lebensbedingungen im texanischen Todestrakt.
Ich habe gelernt, was es heißt individuell zu sein und sich von anderen Leuten abzugrenzen. Ich verstand, was es hieß ein Mexikaner zu sein, was wir Mexikaner „Raza“ nannten. Es bedeutet, dass wir durch dick und dünn gehen, auch wenn es uns gegen die Leute einer anderen Hautfarbe oder Konfession aufbringt, bis zu dem Punkt, an dem wir hier gemeinsam gegen die Autoritäten der vom Menschen geschaffenen Hölle kämpfen. So unterscheiden wir uns von anderen durch unsere eigene Musik, eigene Filme und Bücher, unsere ganze Welt der spanischen Kultur. Je mehr diese Autoritäten versuchen, uns unsere Individualität zu nehmen,