Nachdem er das gesagt hatte, begannen sich die Zahnräder in meinem Kopf zu drehen. Ich wusste, dass ich hier niemandem etwas schulden wollte, weil das nur der Anfang von vielen Problemen wäre. Deshalb sagte ich zu Red: „Nein danke, Mann, ich brauche nichts. Mir reicht das Zeug, das ich habe.“ Er erahnte meine Gedanken, lachte über meine Antwort und sagte: „Ne, Mann, so läuft das hier nicht. Die Kumpels hier werden nicht versuchen, ein Spielchen mit dir zu spielen und erwarten keine Gegenleistung. Sie tun nur das, was auch für sie getan worden ist, als sie in den Todestrakt kamen.“ Ich dachte noch darüber nach, was Red gesagt hatte, als irgendjemand ihn rief: „Hey, Red!“ Er ging vom Loch weg und zur Tür seiner Zelle. Eine Stimme von oben fragte ihn: „Wer ist denn der Neue da unten?“ Red erklärte: „Der ist gerade erst angekommen. Sein Name ist Flores und er ist aus Dallas.“
Plötzlich hörte ich eine Stimme, die mich rief: „Hör mal, du aus Dallas! Que Rollo? Ich bin aus Foritos, mein Name ist Polo.“ Weil er das so gesagt hatte, wusste ich natürlich, dass er - wie ich auch – Mexikaner war, und er erzählte mir, dass er ebenfalls aus der Hauptstadt stammte. Ich freute mich, dass ich einen Mexikaner in meiner Nähe hatte, der sogar aus der gleichen Gegend wie ich kam. Da fühlt man sich doch gleich besser! Vielleicht würde es hier ja doch gar nicht so schlimm werden. In einer Situation wie dieser ist es um so wichtiger, etwas Vertrautes, deine eigenen Leute, um dich zu haben. Da brüllten mich plötzlich ein paar Typen von oben an. Einer, der Showtime hieß, und ein anderer namens Prieto waren ebenfalls Mexikaner und in der 3-Row untergebracht. Sie unterhielten sich jetzt miteinander und überlegten, welche Dinge sie mir schicken könnten. Polo erzählte mir, dass die Typen im Todestrakt das immer für die Neuen machen würden und dass ich mir, wie gesagt, keine Sorgen machen müsse, dass ich danach irgendwem irgendetwas schulde. Er erzählte mir alles auf Spanisch und jetzt fiel es mir leichter, all diese Dinge von meinen neuen Freunden anzunehmen.
Kurz danach kamen der diensthabende Wachmann und der Porter zu meiner Zelle. Sie hatten meine Sachen bei sich. Sie legten mir Handschellen an und zogen mich nach draußen. Dann legten sie mir eine blaue Matratze und ein Kissen in die Zelle hinein. Außerdem hatten sie ein Bettlaken, einen Kopfkissenbezug und ein kleines Zellenhandtuch dabei. Der Wachmann erklärte mir, dass sie mich später zum Duschen abholen würden. Das freute mich. Ich brauchte nämlich unbedingt eine Dusche, nachdem ich die Zelle geputzt hatte. Cadillac warf mir eine Papiertüte in die Zelle, dann durfte ich wieder hinein und sie nahmen mir die Handschellen ab.
Ich nahm die Papiertüte, legte sie auf die Stahlpritsche und schaute hinein. Darin waren die verschiedensten Sachen: Seife, Shampoo, Zahnpasta, eine neue Zahnbürste, eine Tasse und ein Trinkbecher, außerdem ein bisschen Kaffee, Instantnudeln, eine Schreibtafel, ein Stift, Briefumschläge und Briefmarken. Ich nahm alles heraus und starrte es an. Ich fragte mich, wie als Unmenschen verurteilte Männer dazu kamen, sich um meine Bedürfnisse zu kümmern. Ich war sowohl unbeschreiblich gerührt als auch schockiert, setzte mich auf meine Pritsche und dachte über die Männer nach, die im texanischen Todestrakt lebten. Was für Menschen waren das eigentlich? Was machte diesen Ort eigentlich aus, an dem ich mich ja jetzt auch selbst befand? Ich versuchte meine Gedanken von dieser Realität fernzuhalten und mich abzulenken, indem ich begann, meine Zelle aufzuräumen. Hier war ich nun, in dieser Todeszelle, und diese fürchterliche Wahrheit konnte ich kaum ertragen. Ich arbeitete weiter an meiner Zelle und platzierte meine wenigen Habseligkeiten an Plätzen, die mir passend schienen. Schließlich stieß ich auf einen Umschlag, der Fotos von meiner Familie enthielt, die ich in einer Mappe versteckt hatte. Meine Angehörigen hatten sie mir geschickt, sie waren das Kostbarste, das ich hier hatte. Ich setzte mich wieder hin und schaute mir die Bilder an. Darauf war ich zu sehen, glücklich, im Kreis meiner Familie, einen Tag bevor dieses Elend hier begann. Allein daran zu denken zerriss mir fast mein Herz. Meine Familie musste diesen Schmerz, diese unerträglich Gewissheit ertragen, dass ich hierhergeschickt worden war. Ihr Schmerz loderte heiß in mir auf und traf mich tief in meiner Seele. Als der Schock sich langsam gelegt hatte, genug, um zu erkennen, dass ich tatsächlich hier im Todestrakt war, wusste ich, dass mein Leben nie mehr sein würde wie früher. Dieses Leben, an das diese unbezahlbaren Fotos mich erinnerten, war für immer verloren und ich glaubte nicht, dass es jemals wieder so sein würde wie zuvor. Ich fühlte mich leer und innerlich zerrissen, so tief saß der Schmerz. Hier auf dieser Pritsche musste ich lernen, was am meisten wehtut. Eine Lektion, die so grausam war, dass ich sie niemals vergessen werde. Am meisten belastete mich nicht, was dieses System mit mir anrichten könnte, nein, es war das Leid, das meine Familie in dieser Zeit durchlebte. Das war es, was mir am meisten wehtat - zu sehen und zu wissen, dass meine Familie so etwas durchmachen musste. Ich erinnerte mich an den Schmerz meiner Mutter, den Kummer meines Vaters und an ihren Gesichtsausdruck, als sie sahen, wie das Gericht mich zum Tode verurteilte. Wie erdrückend es gewesen sein musste, zu hören, wie solch ein Urteil für ihren jüngsten Sohn gefällt wurde. Schließlich war es zu viel für mich, die Gedanken, die Erinnerungen, die Gefühle. Ich spürte, wie ganz von selbst Tränen meine Wangen hinabrollten. Mit ihnen kam die Einsicht, dass ich dem Verlust meines eigenen Lebens nachtrauerte – ein herzzerreißendes Gefühl. Mir wurde klar, dass meine Familie, die ich so sehr liebte, Höllenqualen erleiden musste.
Ich saß also da mit diesen Fotos in meiner Hand und fing an, mir über die Zukunft Gedanken zu machen. Was würde sie mir bringen? Wie lange hatte ich wohl noch zu leben? Würde ich hier in wenigen Jahren hingerichtet werden? Würde ich meinen Lebensabend in diesem Loch verbringen und nie wieder die Freiheit genießen können? Würde mich meine arme Mutter in einem Sarg sehen müssen? Würde sie mich für meine Beerdigung ankleiden müssen? Es war ein Albtraum – diese Gedanken nagten schonungslos an meiner Psyche. Es fühlte sich an, als würde es nie wieder aufhören, als wäre mein Kopf für immer von Dämonen besessen. Bombardiert mit solch krankhaften Gedanken, allein in dieser winzigen Zelle, die ganze Last der Tatsache, dass ich im Todestrakt saß, lag auf meinen Schultern. Ich fühlte mich so einsam, so weit weg von denen, die mich liebten, denen ich wirklich etwas bedeutete. Ich fühlte mich unendlich alleingelassen, ich war ja jetzt buchstäblich in einen Käfig weggesperrt, ohne Chance, ohne Ausweg. Diese Gedanken erdrückten mich förmlich – sie sollten aufhören, das war mein einziger Wunsch; und sei es nur für eine kleine Weile, vielleicht könnte ich mich dann selbst finden und irgendwie mit dieser Realität zurechtkommen.
Wenn ich jetzt zurückschaue auf diese ersten Stunden im texanischen Todestrakt, dann bin ich überrascht. Ich hätte nämlich damals nie gedacht, dass ich jemals fähig sein würde, diese Erfahrung in Worte zu fassen, die sie auch nur annähernd beschreiben. Jemandem, der das nicht durchgemacht hat, ist kaum zu vermitteln, wie sich das anfühlt. Ich fühlte mich, als hätte man mich mitten in der Nacht in ein tiefes, dunkles, eisiges Meer geworfen, ohne Hilfe weit und breit. Dieses Gefühl ist schlimmer als zu sterben. Der Tod würde nämlich nur für ein paar kurze Augenblicke schmerzhaft sein, ich jedoch starb tausend Tode, denn das Leben im Gefängnis ist ein langsamer, qualvoller Tod. Es quälte mich mit kleinen Stichen und saugte mir mit jedem Atemzug einen Teil meiner Lebenskraft aus. Als meine Gedanken auf dem Grund dieses eisigen Meeres aufschlugen, fühlte ich instinktiv, dass ich nur zwei Möglichkeiten hatte: am Boden zu bleiben und zu sterben oder mich an die Oberfläche zu kämpfen. Wenn man ganz unten ist, versteht man, wie man sich das eigene Leben nehmen kann, und man lernt, dass es eines der schlimmsten Dinge im Leben ist, wenn man die absolute Verzweiflung derart intensiv zu spüren bekommt.
Als ich dort so saß, konnte ich die Stimme meines Vaters hören. Er versuchte, mir klar zu machen, dass meine Situation zu groß war, um sie kontrollieren zu können; größer als das Büro meines Anwalts, größer als das Gericht, größer als das Rechtssystem, das sie repräsentierten. Es war etwas, worüber nur Gott die Kontrolle hatte, und