Lockenkopf 1. Ursula Essling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ursula Essling
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847620310
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      Ihr Mann ist dünn und ich habe gehört, dass keine Frau vor ihm sicher sei. Deshalb bedauern die Leute auch Frau Pfeffer. Zwei Kinder sind da noch, die sind schon so groß, dass sie beim Milchverkaufen helfen müssen.

      Beim Bäcker holen wir unser Brot. Neulich gab mir Mama mal einen Fünfpfennigschein und eine Zuckermarke, dafür durfte ich mir ein Bonbon kaufen. Die Bäckersfrau schenkt einem nie was. Sie ist die zweite Frau vom Bäcker und hat eine Tochter mit in die Ehe gebracht. Sie heißt Marianne und ist schon achtzehn Jahre. Die Leute sagen, dass die Marianne den Gerhard, den älteren Sohn vom Bäcker heiraten soll, damit alles in der Familie bleibt.

       Überfall in unserer Küche

      Meine Mutter hat sich mit unserer Nachbarin angefreundet, der Frau Uhlig. Die ist klein, rosig und rundlich. Ihre Tochter Helga und unsere Inge sind Freundinnen, weil sie genauso alt sind. Diese Helga hat noch einen Bruder, der ist schon fünfzehn Jahre und arbeitet „Hinten“. Auch Herr Uhlig arbeitet dort, so ist Frau Uhlig tagsüber immer allein.

      Als wir nach Kattenbach gekommen sind, hat Frau Uhlig mal zu meiner Mutter gesagt, sie sähe halb verhungert aus. Daraufhin hat sie sie mit in ihren Keller genommen.

      Mama erzählte Papa später, sie hätte gemeint, im Schlaraffenland zu sein. „Du kannst Dir nicht vorstellen, was es da alles gibt, alles, was Du praktisch kaum zu kaufen bekommst.“ Mama war ganz rot vor Aufregung, dabei hielt sie noch immer ein großes Stück Schinken in der Hand. Wurst, Fleisch, Schinken, Kuchen, alles war im kühlen Keller bei Uhligs da. Dann schickte Mama mich raus.

      Was jetzt kam, war sicher besonders interessant. Deshalb stellte ich mich vors offene Küchenfenster und strengte mich arg an, um das Flüstern meiner Mutter zu verstehen. Sie erzählte aber nichts Interessantes und hätte mich deswegen nicht rauszuschicken brauchen. Dass montags immer der Bäcker aus Flörsbach und mittwochs immer der Metzger aus Auenheim zu Uhligs kam, wusste ich sowieso. Aber Mama sagte auch, Herr Uhlig dürfe nichts erfahren, er glaube, seine Frau sei so gut in Schwarzmarktgeschäften.

      Schwarzmarktgeschäfte machen viele. Meine Mutter aber nicht. Sie sagt, das wäre nicht recht, aber ich glaube eher, sie hat Angst, erwischt zu werden. Wenn irgendwas ist, wird sie nämlich immer gleich rot. Die Schusterfrau handelt zum Beispiel mit Amizigaretten. Wie oft habe ich welche für meinen Vater da geholt. Wenn ich anklopfe und sage: „Guten Tag, ich möchte ein Päckchen Camel“, zischt sie immer, ich solle nicht so laut sein. Dabei wissen alle, was sie macht.

      Angst habe ich, wenn es eine Razzia gibt. Da bommern Soldaten ganz toll an die Tür, meistens nachts. Die sehen ganz schrecklich aus und haben Pistolen in der Hand. Meine Eltern müssen sie reinlassen und sie durchsuchen die ganze Wohnung. Da weine ich. Ein paarmal ist es vorgekommen, dass der oberste der Razzialeute mich gestreichelt hat und dass sie dann weggegangen sind. Einmal habe ich sogar Schokolade von so einem bekommen, er hat irgendwas von „Baby“ zu mir gesagt.

      Überhaupt, die amerikanischen Soldaten bestimmen unser Leben sehr. Sogar im Bett, wenn ich nicht schlafen kann, denke ich an sie. Dann schaue ich die Tapete an, auf der sind so grüne Muster. Da stelle ich mir vor, das sind Amis mit ihren komischen Kappen. Und das ist der Freund von dem, und das ist der General. Auch Mädchen sind dabei. Und diese Leute erleben dann immer was Spannendes. So wie wir neulich.

      Da kamen am helllichten Tag zwei Soldaten in unsere Küche gestürzt und packten meinen Vater an der Gurgel. Einer setzte ihm ein Messer dran, der andere hielt ihn fest. Sie waren furchtbar aufgeregt, mein Vater aber auch. Meine Mutter aber wurde ganz wild. Plötzlich hatte sie eine Riesenkraft. Im Nu schnappte sie sich das Messer und hielt es nun dem verdutzten Ami an die Kehle. Dabei sagte sie so schlimme Sachen, die ich alle nicht sagen darf. Die beiden Soldaten flüchteten regelrecht. Papa war ganz blass und ganz still. Mama schimpfte jedoch immer noch.

      Am nächsten Tag, es war Sonntag, gingen meine Eltern in unseren Garten, den wir seit einigen Monaten haben. Sie wollten darin arbeiten. Inge wurde eingeschärft, die Haustür verschlossen zu halten und niemand reinzulassen, falls die wilden Amis wiederkämen.

      Sie kamen wieder und Inge machte ihnen auf. Sie sagten nichts weiter und gaben Inge eine große braune Tüte und einen Zettel. Als sie gegangen waren, rannten wir in den Garten. „Die Amis waren da“, schrie meine Schwester schon von Weitem. Sie schwenkte den Zettel und gab Mama die Tüte. „Du solltest doch auf keinen Fall aufmachen“, brauste diese auf. Wir beruhigten Mama, als wir ihr erklärten, dass die Soldaten diesmal freundlich gewesen seien. Auf dem Zettel stand:

      Wir traurig, denken Du böse,

      andere Mann uns verfolgen.

      Verzeih.

      Ein Pfund Kaffee, Schokolade und drei Päckchen Camel waren in der Tüte. Der Schrecken hatte also auch was Gutes gebracht, meinte Mama.

       Geben Sie mir 75 Pfennig die Stunde

      Alle reden von der Währungsreform. Ich verstehe das aber noch nicht. Ich kapiere nur, dass alle Personen gleich viel Geld bekommen sollen, und man alles im Laden kaufen kann. Jetzt kaufen Inge und ich ganz offen Zucker beim Braun. Alle Leute wirken irgendwie froh. Ich fragte Inge, ob ich auch eine Person sei. Sie überlegte, was man ihr immer ansieht, und sagte schließlich: „Na, man könnte sagen, dass Du eine halbe Person bist.“ Die halbe Person kommt jetzt in die Schule. Ich freue mich so.

      Mein Vater arbeitet gelegentlich für andere Leute. Sie rufen ihn, wenn der Wasserhahn tropft oder überhaupt nicht läuft. Auch beim Hausbau hilft er. Da geniert er sich immer, bezahlt zu werden, ist aber trotzdem froh, wenn er was bezahlt bekommt. So ist er zu anderen Leuten. Mama ärgert sich immer darüber. Zuhause kann der Wasserhahn tagelang tropfen, das stört ihn nicht einmal. Ich weiß auch, warum; denn er nimmt mich manchmal zu den Leuten mit. Die sagen dann: „Das haben Sie aber prima hingekriegt, Herr Scholl“, und machen ihn damit ganz verlegen. Aber das machen die Leute nur, damit sie ihm weniger bezahlen müssen. Manchmal wird mir auch über den Kopf gestrichen mit dem üblichen: „Was hast Du für schöne Locken!“ Und wenn sie meinen Vater total einwickeln wollen, bekomme ich auch noch ein Stück Kuchen. Das drückt alles die Preise, meint meine Mutter, außerdem hätten wir's nötig. Wir müssen ja auch unsere Miete und die anfallenden Kosten pünktlich bezahlen.

      Die Miete kostet zweiunddreißig Mark fünfzig und wir bringen das Geld an jedem Ersten zu Herrn Weigand, der am anderen Ende der Kaiserstraße wohnt. Mama gibt ihm dann immer seufzend das Geld, fein säuberlich abgezählt. Herr Weigand schreibt in ein großes schwarzes Buch, dass Scholls die Miete bezahlt haben, und seufzt dann ebenfalls, wie schwer die Zeiten seien. Auf diese Weise lerne ich alle Leute in Kattenbach kennen. Viele haben auch Kinder, mit denen ich spielen kann.

      Eines Tages nahm mich mein Vater mit zu Wolfs. Da machte er auch irgendetwas an der Wasserleitung. Die Wolfs bestehen aus einer Mutter und vier Kindern. Der Vater ist im Krieg gefallen. Die zwei Mädchen sind in Inges Alter. Eine ist schwarzhaarig, ruhig und vernünftig. Die andere hat einen blonden Struwwelkopf und steckt voller Einfälle. Der ältere Junge ist wie seine vernünftige Schwester.

      Aber der Paul, der ist wie seine struwwelige Schwester, einfach herrlich. Wir haben sofort gemerkt, dass wir zusammenpassen. Frau Wolf hat, wie sie sagt, am meisten Last mit ihm. Er stellt soviel an. Dabei will er doch gar nicht immer was anstellen, sagt er. Das glaube ich ihm auch; denn man kann ja nicht immer wissen, was aus einer guten Absicht wird. Ich kenne das ja auch aus Erfahrung. Erwachsene sehen das halt alles immer anders.

      Die Schule ist auch nicht das, was ich gedacht habe. Stundenlang muss man still sitzen und auch noch genau zuhören, was der Lehrer erzählt. Dann will er auch noch von uns Kindern wissen, was er uns erzählt hat.

      Dabei fing es so aufregend an. Alle hatten eine große bunte Schultüte voller Süßigkeiten. Damit wurden wir fotografiert. Dann kamen wir in unsere Klasse und der Lehrer las uns unsere Namen vor. Wen er aufrief, der musste den Finger in die Höhe strecken. Den Paul hat er dreimal aufgerufen, bis der merkte, er war gemeint. Bin ich froh, dass Paul in meiner