Schwafeleien und Machogehabe
31. Dezember Da ist sie wieder die Depression. Seit zwei Tagen und drei Nächten tue ich kaum etwas anderes, als ununterbrochen zu grübeln, mich in Rage zu denken. Ich kann noch nicht einordnen, was der Auslöser war, bin jedoch sicher, dass Pascal Teil dessen ist. Der andere Teil wird der Abschied von Lukas gewesen sein, den ich jetzt erst so richtig verarbeite. Nein, eigentlich ist alles schuld, was mich emotional berührt. Den zweiten Weihnachtstag verbrachten Paschi, Mutti und ich bei Oma. Zu Besuch kam unter anderem der Bruder meines Onkels. Wir sprachen eine ganze Weile über Andys Selbsthinrichtung und sahen uns die Bilder der Beerdigung an. Auch Papa war Thema ... Abgesehen von der Futterei war es ein fabelhafter Abend. Trotzdem ertrug ich das Miteinander schwer. Ich hatte keinen Bock, mich zu unterhalten, wollte nichts als Rückzug. Vor allem aber ekelte ich mich vor Pascals Essmanieren. Sein Haupt hing geradezu in der Geflügelsalatschüssel, die er zur Hälfte leerte. Zusätzlich stopfte er sich ein Toast nach dem anderen rein (es gab Kekse, Kuchen und Torte vorweg!). Anschließend ächzte er, wie voll er sei. Sein Bauch quoll dick über den Hosengürtel. Und pausenlos rülpse er in seine Hände. Dagmar rollte die Augen, Susi gestikulierte das Kotzen. Es brachte natürlich nichts, ihn darauf aufmerksam zu machen. Wie sonst auch stritt er alles ab, kochte runter, drehte mir die Sätze im Munde um. In solchen Momenten frage ich mich, wie ich’s mit ihm aushalte. Inzwischen sind wir eineinhalb Jahre zusammen. Ein ungleiches Paar zwar, aber immerhin mit ausreichend Gemeinsamkeiten. Allerdings hab ich einiges an ihm auszusetzen: seine aufbrausende Ungeduld, sein prolliges Gebaren und Machogehabe. Wir sind uns in so ’nem Aufreißerschuppen auf’m Kiez begegnet. Ich weiß nicht mehr, wie wir ins Gespräch kamen. Vermutlich lag’s am Alkohol. Obwohl er mir auf den ersten Blick optisch zu sehr nach Türsteher aussah, fühlte ich mich stark von ihm angezogen. Von seinem strahlendweißen Lachen, den leuchtenden, grünen Augen und der kräftigen Statur. So ein richtiger Bodyguard und Anlehnungstyp. Die ersten Dates folgten. Er begeisterte mit Charme, rauer Stimme, attraktiver Männlichkeit, die auch anderen Damen den Kopf verdrehte, Unterhaltsamkeit, Zärtlichkeit und nicht zuletzt mit seinem Jagdinstinkt, mich hartnäckig zu erbeuten. Denn anfänglich wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen, ihn als Partner in Erwägung zu ziehen. Damit, dass er mal verheiratet gewesen war, hatte ich kein Problem. Ich schätzte seine Offenheit und Ehrlichkeit auf Anhieb. Er erzählte mir von der Ehe und seiner letzten Exfreundin. Während er damals über die Scheidung nachdachte, weil seine Exfrau nach eigenen Worten geldgierig, faul, zickig und hinterlistig gewesen sein soll, setzte sie heimlich die Pille ab und wurde schwanger. Unabhängig von seiner Trennungsabsicht fühlte Paschi sich noch nicht bereit, eine Familie zu gründen. Er befand sich gerade mitten im Aufstieg seiner Berufskarriere beim Bund. Daher forderte er die Abtreibung, die sie verweigerte. Demnach probierte man es weiter, wobei die Gefühle bereits erloschen waren. Wenig später ging sie ihm mit einem anderen fremd, den sie dann auch heiratete. Nach der Scheidung schwängerte er seine Exfrau im Ausrutscher ein zweites Mal. Um ihr Liebesglück vollkommen zu machen, bat sie ihn, die gemeinsamen Kinder zur Adoption freizugeben. Ihr Mann würde sich der Vaterrolle annehmen. Er willigte ein und beendete sogleich die Zahlung des Unterhalts. Eine ziemlich üble Phase folgte. Er verlängerte seine Laufbahn beim Bund nicht, sondern zog stattdessen hierher, verschuldete sich, meldete Privatinsolvenz an, driftete in falsche Kreise ab und beging ein paar Straftaten. Meine Vorgängerin lernte er im „Milieu“ kennen. Geblendet von der rosaroten Brille ließ Pascal sie schon nach einem halben Jahr bei sich einziehen. Dann aber stellte sich heraus, dass sie in ihrer Art „dumm wie Brot, krankhaft eifersüchtig, manipulativ und gestört“ war. Eines Tages, nachdem sie seine Pornosammlung entdeckt hatte, tickte sie gänzlich aus und ging mit einem Gürtel auf ihn los. Die Streitereien eskalierten so weit, dass sie ihn mit einem Messer attackierte, woraufhin er reflexartig ausholte und ihr eine scheuerte. Und ich dachte, ich wäre verrückt! Dass ein Mann eine Frau schlägt, ganz gleich, was sich diese leistet, ist ein absolutes No-Go, das sich mit nichts entschuldigen lässt. Daher entschied ich, das Ganze langsam angehen zu lassen, zumal ich mir meinen Traumprinzen ganz anders vorstellte. Mit seinen ehemaligen Kreisen hatte er glücklicherweise nichts mehr am Hut; mittlerweile arbeitete er als Bauarbeiter. Mir waren hin und wieder lediglich sein Styling (Unterhemd, Tarnhose, Armyboots) und sein Auftreten (Undercut, geschmacklose Tribal-Tattoos) peinlich. Aber daran konnte ich drehen und das tat ich. Inzwischen gelt er die Locken wie James Dean aus der Stirn, und Koteletten zu Stoppelbart zieren sein markantes Gesicht. Er trägt weiße Hemden, aus dem seine braunen Brusthaare herausblitzen, und schicke Jeans, gelegentlich zu Anzugschuhen. Nach einem knappen Monat passierte das mit Lukas. Paschi war so rührend für mich da, dass ich mich in ihn zu verlieben begann. Vielleicht hatten wir einander gerade deshalb gefunden, um uns gegenseitig Halt zu geben. Die Wochen verstrichen. In erster Linie schön, aber auch nicht unproblematisch. Hie und da kam seine Spießigkeit zum Vorschein. Dass ich in meiner Singlezeit sexuell nicht weniger aktiv war als er, verärgerte ihn derart, dass er mich als Bitch beleidigte. Die Einstellung, Frauen hätten nicht die gleichen Rechte wie Männer, wurde lange zum lästigen Thema, das mich mehrere Male zum Absprung motivierte. Darüber hinaus führten wir zahlreiche Diskussionen über mein Bedürfnis nach Raum und Freiheit, von dem ich zu Anfang geglaubt hatte, er würde es gut händeln können. Nun bin ich in seinen Augen anormal, weil ich die Auffassung, jede freie Minute zusammen verbringen zu müssen, nicht teile. Es brauchte viel Geduld, bis er lernte, das einigermaßen zu akzeptieren und zu tolerieren. Wir haben wirklich etliches durchgemacht und übergestanden. In gewissem Rahmen ergänzen wir uns. Wenn der eine schwach ist, ist der andere stark. Ich glaube, wir sind vor allem so weit gekommen, weil Paschi beharrlich blieb und niemand ist, der jammert oder gerne zofft. Außerdem brachte das Vertrauen, den anderen in- und auswendig zu kennen, Stabilität in unsere Beziehung. Die langsam zerbröckelt ... Er versicherte mir, er werde zukünftig ein sauberes Leben führen. Das erwarte ich auch. Ebenso wie das Verändern seines Dauerpleitezustands. Zu meiner positiven Überraschung trat er daher einen neuen Job an, der ihm mehr Geld einbringt, und setzte sich das Ziel, die Insolvenz aufzulösen. Klang super ... Dass er sein Ziel jedoch von seinem besten Freund Steffen, der angeblich ein paar Millionen von seinem Onkel erbt, abhängig macht, ist Grund Nr. 1, der mich daran zweifeln lässt, ob das mit uns weiterhin Bestand hat. Die zwei planen nämlich ein gemeinsames Geschäft, für dessen Vorbereitung Pascal keine negativen SCHUFA-Einträge haben darf. Demzufolge wird Steffen ihm den Insolvenzbetrag auszahlen und für sein Einkommen sorgen. Ob Paschi sich gar nicht schlecht dabei fühle, ein solch großes Angebot von einem Freund anzunehmen, fragte ich. Versprochen sei versprochen, trotzte er. Ich hätte das Erbe von Klaas schließlich ebenfalls angenommen. Damit hat er zwar Recht, aber im Gegensatz zu ihm steht mir das als Tochter zu! Weil Steffen ein Schwafler ist, ahne ich, dass Pascals Sechser-Lotto-Luftballon über kurz oder lang platzen wird. Davon will er natürlich nichts wissen. Lieber schwelgt er im Nebel der Illusionen, in absehbarer Zeit in Gold zu schwimmen und spätestens mit fünfzig in Rente zu gehen. Zuerst träumten sie vom Aufbau eines Clubs, dann eines Restaurants, dann einer Immobilienfirma. Und jetzt vom Führen eines Motorradfachhandels, dessen Betreiber noch keine Filiale in Hamburg hat. In ein paar Jahren hat Steffen vor, sich in Barcelona abzusetzen, um die Sonne zu genießen, während mein Partner die Filiale allein weiterleiten soll, was seiner Meinung nach ganz easy sei – mit so ein paar kaufmännischen Maßnahmen. Seine Blauäugigkeit finde ich einfach nur minderbemittelt. Eine gemeinsame Zukunft? Nicht auszudenken. Da braucht es Verantwortungsbewusstsein. Vergangene Woche wollte ich erfahren, warum er keine Radiorundfunkgebühren zahle. Ob er nicht ermahnt werde? Seine einfältige Antwort: „Die verlangen von mir, dass ich im Nachhinein 500 Euro bleche. Aber das können die sich abschminken. Die Gebühren sollen 2017 eh gesetzlich abgeschafft werden. Von mir sehen die keinen Cent!“ „Ach, und du glaubst, dass du ohne Weiteres damit durchkommst? Natürlich wirst du blechen müssen. Auch dann, wenn das Gesetz tatsächlich abgeschafft werden sollte.“ „Nö, Quatsch!“ Genau, die Forderungen