Sichelland. Christine Boy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Boy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844236200
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      Es war immer noch Nacht, doch das Tageslicht ließ sicher nicht mehr lange auf sich warten. Sie befand sich nicht allzu weit von Goriol entfernt und überlegte, ob sie nicht gleich zu Akosh zurückgehen sollte. Bald würden hier Händler durch den Wald tingeln, Kräutersammler – vielleicht sogar aus dem Tempel – würden zwischen den Bäumen umherschleichen und dieser alberene Neugierige aus Manatara war sicher auch schon in der Gegend unterwegs. Ein Tag in dem dämmrigen Anwesen Akoshs und die Aussicht auf ein Treffen der Gemeinschaft war vielleicht genau das, was sie jetzt brauchte, um sich abzulenken und gleichzeitig das Gefühl zu haben, einen Schritt voranzukommen.

      Der Traum hatte einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen. Sie kannte seine Fortsetzung zu gut und leise beschlich sie die Ahnung, dass ein längerer Aufenthalt im Mittelland diese Bilder des Unterbewusstseins immer weiter zutage förderte. Nicht nur im Schlaf, nein, auch in schwachen Momenten, wie oben an der Schildkrautlichtung, tauchten sie plötzlich und unvermittelt auf, als würden die Feinde selbst sie schicken.

      Lennys hatte nie jemandem davon erzählt. Weder von der Wirklichkeit noch von den Träumen. Es wäre eine Schwäche gewesen, gerade so, als ob sie Hilfe suchte oder nicht in der Lage wäre, allein damit fertig zu werden. Eines Tages würde der Tod sie besiegen und mit ihr würde dieses Wissen sterben. Kein wirklich unangenehmer Gedanke.

      Nachdenklich nahm sie den Gegenstand in die Hand, den sie nur zwei Tage zuvor aus der Höhle in Valahir geholt hatte. Es war gut, ihn wieder an ihrer Seite zu spüren, auch wenn sie ihn noch nicht benutzte. Ihr Verlangen war stärker geworden, seit sie ihn bei sich trug, mit jedem Tag, jeder Stunde, jeder Minute brannte es mehr, wollte sich kaum noch zähmen lassen. Nicht mehr lange und die Zeit dieser Entbehrung war vorüber. War es das, was sie wirklich brauchte, um die Schatten der Vergangenheit zu verjagen? Sie wieder aufleben zu lassen? Wie kann man gegen das Ferne und Unwirkliche kämpfen? Ist es nicht leichter, es zu sich zu holen und wieder wirklich werden zu lassen?

      Goriol kam näher. Der stille Wald bedeutete ihr nichts mehr, obwohl sie wusste, dass sie sich bald wieder dorthin zurücksehnen würde. Aber auch der Wald war nur ein Ersatz, ein müder, stumpfer Abglanz dessen, wonach sie sich wirklich sehnte. Hier war sie nicht zu Hause, dies war nicht das Sichelland. Und nur dort gehörte sie hin. Es war noch zu früh für eine Heimkehr. Sie durfte nur nicht den richtigen Moment verpassen, ... denn sonst war es vielleicht zu spät.

      Akosh war in seinem Lehnstuhl eingedöst. Nicht, weil er müde war oder erschöpft, sondern weil seine Gedanken ihn zu sehr beschäftigt hatten. Schon vor vielen Jahren hatte ihm ein alter Priester beigebracht, das Gehirn einfach auf 'Ruhe' zu schalten, an nichts zu denken, sich mit nichts zu beschäftigen. Diesem Zustand folgte meist ein traumloser Schlaf oder, so wie jetzt, eine vollkommene Leere, die zwischen dem Wachsein und dem Tiefschlaf schwebte.

      Es klopfte.

      Das Erste, was Akosh wahrnahm, war die Tatsache, dass der Himmel sich hellgrau verfärbt hatte. Die Nacht war vorüber und wer auch immer ihn zu dieser frühen Stunde zu sprechen wünschte, scherte sich nicht darum, dass ganz Goriol noch im Bett lag.

      „Wenn das dieser verdammte Algar ist, werde ich ihn mit dem Schmiedehammer erschlagen!“ knurrte Akosh und tastete sich im Halbdunkel zur Tür.

      „Wer ist da?“ fragte er unfreundlich, ohne zu öffnen.

      „Mach auf.“ sagte Lennys knapp.

      „Oh, du....“ Mit entschuldigender Geste ließ Akosh sie herein und unterdrückte dabei ein Gähnen. „Ich hatte dich nicht so früh zurückerwartet.“

      „Ich mich auch nicht.“

      „Nebenbei bemerkt, du siehst nicht sehr erholt aus. Wo warst du heute nacht?“

      Der Goldschmied hatte einen freundschaftlichen Ton angeschlagen und sich nichts bei seinen Worten gedacht, umso überraschter war er, als er eine ausgesprochen barsche und herablassende Antwort erhielt.

      „Es geht dich nicht das Geringste an, wo ich meine Nächte verbringe und abgesehen davon solltest du in Zukunft auf ähnliche Beleidigungen verzichten, wenn du den Winter noch erleben willst!“

      Akosh zuckte zusammen.

      „Oh... ent...entschuldige. Das war nicht so gemeint. Ich dachte nur...“

      „Hör auf zu denken! Wo ist Menrir?“

      „Er ist zurück nach Elmenfall gegangen, es ist gerade erst zwei oder drei Stunden her. Du sagtest, du brauchst ihn momentan nicht...“

      „Tu ich auch nicht. Ich brauche überhaupt niemanden. Hab ich dir vielleicht irgendeinen Vorwurf gemacht?“ fuhr Lennys den verwirrten Akosh bissig an.

      „Nein, hast du nicht...“

      „Na also. Gibt es irgendetwas Neues seit gestern?“

      Akosh nickte.

      „Dieser Algar ist hier aufgetaucht, gerade als Menrir vorhin zur Tür hinaus ist. Wusstest du, dass die beiden sich kennen?“

      „Menrirs Bekanntschaften interessieren mich nicht, solange er seinen Mund zu halten weiß. Und dieser...Algar... hat gesehen, dass Menrir bei dir war?“

      „Ja, aber, Menrir hat ihn glauben gemacht, es wäre ein rein medizinischer Besuch gewesen. Ich weiß aber nicht, ob Algar es ihm abgenommen hat. Menrir war auch nicht sonderlich erbaut von Algars Neugier und hat sich recht abweisend verhalten.“

      „Gut so. Ich kann nicht noch mehr Leute brauchen, die sich in unsere Angelegenheiten mischen.“ Ihr Ton wurde etwas ruhiger, doch Akosh wusste aus Erfahrung, dass diese Ruhe oft nur von kurzer Dauer war.

      „Du bist also aus dem Tempel ausgezogen?“ fragte er, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

      „Sozusagen. Und es wird hoffentlich nie einen Grund geben, dorthin zurückzugehen. Ich bin froh, dass ich diese schreckliche Beema nicht mehr ertragen muss, sie hat mich wahnsinnig gemacht.“

      „Du hast sie doch kaum gesehen.“ lächelte Akosh.

      „Ich musste jeden einzelnen Schritt planen, um ihr nicht in ihre schleimigen Hände zu fallen. Das hat schon gereicht.“

      „Und Sara?“

      „Was soll mit ihr sein?“ fragte Lennys beiläufig zurück und betrachtete wieder die Wandteppiche.

      „War sie auch so schlimm?“

      Lennys antwortete nicht. Sie wusste nicht, warum sie sich plötzlich noch wütender fühlte, warum ihre schlechte Laune und Gereiztheit sich noch weiter steigerten. War es das Bild, auf das sie gerade sah? Eine Landschaft aus Cycalas, irgendwo im Süden nahe Askaryans. Nein, das war es sicher nicht. War es das Begehren, das sie immer stärker spürte, seit sie in Valahir gewesen war? Akosh hatte nach Sara gefragt.

      Lennys dachte an jenen Abend, als sie Sara von dem Schlangendämon erzählt hatte. Auch da war diese Wut in ihr hochgekocht, doch es war unter dem Einfluss von nicht wenig Alkohol gewesen und sie wusste auch, worauf sie so zornig gewesen war. Auf die Unwissenden, die sich mit den Eingeweihten immer mehr vermischten und die Reinheit des Glaubens beschmutzten. Ein Problem, das so alt war wie die Religion selbst und das immer wieder zu einem Streitthema wurde, wenn die Richtigen beisammensaßen. An diesem Abend hatte sie etwas gebraucht, ein Ventil für ihr Temperament, einen Grund, es aus sich herauszulassen.

      Und jetzt? Brauchte sie es wieder?

      „Lennys?“ fragte Akosh noch einmal vorsichtig. „Ist alles in Ordnung?“

      'Das wüsste ich selbst gern.' dachte Lennys. All die Wut war plötzlich verraucht und sie fühlte sich leer und ausgebrannt. Wie ein Totenfeuer, das man zu früh gelöscht hatte.

      „Wir treffen uns heute um Mitternacht in deinem Keller.“ sagte sie dann ohne weiter auf Akoshs Frage einzugehen. „Wirst du das hinkriegen?“

      „Ja, natürlich. Aber ich werde den ganzen Tag über unterwegs sein müssen, um alle zu erreichen, ohne dass es auffällt. Selbstverständlich kannst du über mein Haus verfügen.“