Doch während die Fremden in dunklen, geheimen Kellern ihre Klingen schmiedeten, breitete sich die Saat der Fürstin in den Dörfern und Städten des Kontinents aus. Gerade über die Krieger der Cycala machten schaurige Geschichten die Runde und ein Gerücht überbot das andere an Grausamkeit und Hass. Selbst einfache Bauern, die nie auch nur ein Haar der Fremden zu Gesicht bekommen hatten, wussten von dämonischen Riten und blutigen Opfern zu berichten, von Morden an Unschuldigen und vielen anderen feigen und brutalen Verbrechen.
Kein Jahr war seit dem Blutbad in der Bucht vergangen, doch ganz Sacua machte nun Jagd auf ein Volk, dem die Wenigsten jemals von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden waren. Viele Fürsten setzten hohe Belohnungen aus und trotz ihrer wohl gewählten Verstecke und ihrer Zurückgezogenheit gelang es vielen Cycala nicht, sich vor den Klingen der aufgehetzten Bevölkerung zu schützen.
Angeführt von Saton und den neun Cas - seinen höchsten Kämpfern - begannen die Cycala nun ihrerseits zurückzuschlagen. Und sie machten keinen Unterschied zwischen mordlustigen Soldaten oder sie verfluchenden Hausfrauen, zwischen schwertschwingenden Dorfwachen oder Fäuste schüttelnden Bauern. Heute spricht man von dieser blutigen Zeit als dem „Großen Krieg“, denn kein Teil des Landes blieb von Opfern und Kämpfen verschont.
Nach vielen Monaten der Schlachten gelang es Saton und den Cas schließlich, die Grenzen Orios zu überwinden, denn noch immer war sein oberstes Ziel, die Urheberin des Krieges, die Fürstin Orjope, ihrer gerechten Strafe zuzuführen und damit die Quelle der Lügen versiegen zu lassen. Tatsächlich schafften es die Kämpfer, die Burg Orjopes zu stürmen, doch noch bevor es soweit war, wurde Saton vor den Augen seiner Cas durch einen Leibwächter der Herrscherin getötet, der aber daraufhin mit einigen seiner Anhänger floh und so seine Herrin verriet.
Orjope starb noch vor dem Morgengrauen. Über die genauen Umstände ihres Todes gibt es viele Geschichten, doch sicher weiß man nur, dass einer der Cas ein altes Ritual an ihr vollzog, das als besonders grausam gilt. Und obwohl der Mörder Satons noch immer am Leben und in Freiheit war, verschwanden die Kämpfer Cycalas' daraufhin aus Sacua, zurück in ihr Land nördlich Valahirs. Die wenigen Überlebenden ihres Volkes, die der großen Jagd entgangen waren, blieben.
Im Süden verbanden sich die kleineren Grafschaften und Fürstentümer zu einem Reich. Urguls Sohn Log vereinigte die Ländereien und Besitztümer und vermittelte zwischen den alten Herren der Gebiete, bis diese bereit waren, sich einem einzigen Herrscher zu unterstellen. Im Gegenzuge sollte ein großes Heer das gesamte Land beschützen und einheitliche Gesetze sollten den Menschen ein friedliches Leben ermöglichen. Bereits im Sommer nach der Schlacht von Orio wurde Log zum König des neuen Reiches Manatar ausgerufen.
Zwölf Jahre vergingen. Zwölf Jahre, in denen es nicht zuletzt den verbliebenen Cycala und dem neuen Herrscher des Südens, König Log, zu verdanken war, dass viele Menschen an der Richtigkeit der Jagd zweifelten. Hin und wieder offenbarten sich die Fremden wieder ihren engsten Freunden, sprachen von ihrer Heimat und sangen ihre Lieder. Nur wenige störten sich daran. Es hatte viel Leid und Tod auf beiden Seiten gegeben und kaum jemand wollte die Vergangenheit wieder aufleben lassen. Nur einige besonders verbissene Kämpfer aus jenen Tagen verfluchten das Sichelland immer noch, doch es waren zu wenige um eine wirkliche Gefahr darzustellen.
Anders war es mit den geflohenen Soldaten aus Orio. Sie fanden unter Führung des Leibwächters, der Saton das Schwert durch das Herz gebohrt hatte, in Zrundir – dem alten Feind Cycalas – Zuflucht, doch hörte man nur noch selten von ihnen. Gelegentliche Übergriffe, vor allem ins heutige Mittelland, wurden ihnen zugeschrieben, doch vom Sichelland hielten sie sich trotz der Silberminen fern. Sie wussten, dass ein Gegenschlag Cycalas Zrundirs Ende gewesen wäre, auch wenn es sie verwunderte, dass Satons Tod anscheinend ungesühnt bleiben sollte. Kein Angriff aus dem Sichelland erfolgte und auch im restlichen Sacua schienen die Wunden der Jagd langsam zu heilen.
Doch selbst nach so langer Zeit lassen sich immer noch Spuren der düsteren Tage entdecken. Eine Mauer eisigen Schweigens hüllt sich um diese Zeit und die engen freundschaftlichen Bande, die einst zwischen dem Sichelland und dem Süden herrschten, sind einer kühlen Distanz gewichen, geprägt von Ehrfurcht und ein wenig Angst auf der einen und Gleichgültigkeit auf der anderen Seite.
I - Der Weg
Kapitel 1
Der Nebeltempel lag noch tief im nächtlichen Schatten der Ausläufer Valahirs verborgen und nur vage tasteten sich die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont. Der Herbst schickte seine Vorboten in diesem Jahr weit voraus, denn obgleich die Tage warm und sonnig waren, mehrten sich doch die kalten Nächte, in denen ein Spaziergang ohne wärmenden Umhang undenkbar war.
In dieser Gegend jedoch war man an dergleichen gewöhnt. Selbst in den Sommermonaten verschleierte der Nebel, der dem Tempel einst seinen Namen gegeben hatte, an vielen Morgen die Sicht und senkte sich auch des Abends wieder wie eine milchig-weiße Decke über das Land.
Menrir war sich nicht sicher, ob er diesen Umstand besonders mochte. Er war nicht mehr jung, fühlte sich aber dennoch in seinen besten Jahren, bereit, noch viele Wagnisse einzugehen. Aber sein unstetes Leben hatte Spuren hinterlassen und der Heiler genoss zuweilen die wärmenden Sonnenstrahlen auf seiner ausgemergelten Haut und den sanft kitzelnden Sommerwind in seinen weißen, zerzausten Haaren, die ihm bis auf die Schultern reichten. Beides fehlte ihm hier gelegentlich, wenn er sich aus dem Ort Elmenfall aufmachte, um wieder ein paar Tage im Tempel zu verbringen. Andererseits erfrischten ihn diese kurzen Reisen immer wieder aufs Neue, wenn er mit den jungen Novizinnen scherzte, in alten Schriften der Tempelbibliothek versank oder den Geruch des beneidenswerten Kräutergartens einsog. Er freute sich auf die Ankunft dort, doch ebenso freute er sich auch wieder auf sein Zuhause in Elmenfall.
An diesem Morgen jedoch, als er erleichtert die letzte Anhöhe auf dem Weg zum Tempel erreichte, beschäftigte ihn weitaus mehr als die nächste Lektion, die er für seine Heilkunstschülerinnen vorbereitet hatte. Es würde kein Besuch wie sonst werden und die nächsten Tage würden vielleicht entscheidende Änderungen mit sich bringen – Änderungen, die wohl nicht unbedingt den Nebeltempel, aber sehr wohl seine Zukunft dort beeinflussen würden. Er fragte sich, wann er das nächste Mal über diese Hügel wandern würde – und ob es überhaupt ein nächstes Mal gab. Vielleicht sah er auch alles zu schwarz und es war sicher nicht gut, mit zu viel Pessimismus in die Zukunft zu sehen. Das sagte er den Novizinnen selbst immer wieder.
'Wieviel leichter es doch ist, Ratschläge zu erteilen als seine eigenen zu befolgen.' dachte er schmunzelnd und sogleich durchströmte ihn eine Welle der Zuversicht. Es war nicht alles sorgenvoll an diesem Tag und er bemühte sich, sich auf das zu freuen, was die nächsten Stunden mit sich bringen würden – ein Wiedersehen, eine gut gefüllte Kräuterkammer und nicht zuletzt ein kleines Festmahl am Abend.
Als Menrir die Seitenpforte erreichte, die in den Tempelgarten führte, den er so liebte, musste er nicht einmal anklopfen. Die niedrige Tür schwang auf, eben als er den Arm heben wollte und er war nicht überrascht als er sah, wer ihn so früh schon erwartete. Eine junge Frau mit goldblonden Haaren, die sie locker zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Sie trug die dunkelrote Kutte der untersten Novizinnen und ihre grünblauen Augen bildeten einen seltsamen Kontrast dazu.
„Guten Morgen, Sara. Ich nehme an, es ist kein Zufall, dass gerade du mir öffnest? Das heißt.... solltest du nicht beim Morgengebet sein?“
Sara schüttelte den Kopf. „Die Oberin hat mich ab heute für die Dauer des Besuches davon befreit. Und deshalb....“
„Deshalb dachtest du, du könntest die Gelegenheit nutzen und mich gleich einmal in Beschlag nehmen, bevor irgendjemand sonst es tut, richtig?“
Menrir lachte als er den verlegenen Ausdruck auf dem Gesicht der Novizin bemerkte und er nahm ihr die Antwort ab.
„Schon gut, das kommt mir sehr entgegen. Ich wollte nämlich auch mit dir reden und zwar bevor du anderweitig beschäftigt bist, wenn du verstehst, was ich meine.“
Sara nickte. „Danke. Ich habe frischen