Der Vater: Du bist nun schon etwas größer, man kann mit dir schon über mancherlei sprechen, dir erklären. Die Menschheit steht also in einem jahrtausendelangen Befreiungskampf, es gab Teilerfolge, es gab frühkommunistische Träumer, aber Gestalt bekamen diese Träume erst durch Karl Marx, Friedrich Engels, durch Lenin und Stalin. Jetzt also beginnt das Menschenglück, wenn wir auch noch schwere Kämpfe mit den Bonner Ultras, dem westdeutschen und amerikanischen Imperialismus zu bestehen haben werden. Die Uhr läuft jedenfalls nicht gegen uns.
Geradlinig verläuft der weitere Weg Wolfgangs, 1954 Freie Deutsche Jugend, Sekretär seiner Gruppe: Wir kämpfen darum, daß jeder Angehörige unseres Jugendverbandes das Blauhemd trägt, das ist eine Ehrenpflicht. Die großen Erschütterungen, der Tod Stalins, der 17. Juni, der xx. Parteitag der KPdSU, alles wird von dem Jungen noch leicht absorbiert.
Der Vater: Die kommunistische Weltbewegung, mein Junge, besitzt eben wie keine andere Bewegung - sie ist ja überhaupt die einzige, die heute eine Massenbasis hat - die Fähigkeit, Widersprüche auszutragen. Das geht bis in die Familien, natürlich. Nicht bei uns, selbstverständlich. Ich meine nur im Prinzip.
Dann die Frage, was willst du werden? Zum ersten Mal kann Wolfgang keine klare Antwort geben. Er kann nicht sagen, dies oder das würde ich zu gern lernen. Aber er kann leicht Gründe für diesen oder jenen Beruf aufzählen. Die Volkswirtschaft braucht ... Er beginnt eine Maurerlehre; er absolviert die Lehre nicht auf dem Bau, sondern in einer Sondereinrichtung, allgemeinbildende Schule - Abitur - Ausbildungsstätte - Maurer.
Mit Bauarbeitern kommt er nicht viel in Berührung, andere Erfahrungen prägen sein Leben. 1958 kommen Offiziere der Nationalen Volksarmee in den Betrieb. Sie suchen Kader. Wolfgang verpflichtet sich zum Soldat auf Zeit, tritt in die Sozialistische Einheitspartei ein, sichert die Grenze am 13. August.
Der Vater: Ich habe aufgeatmet, mein Junge, als ich davon hörte. Na ja, ich bin ja leider zu nichts mehr zu gebrauchen, aber ich habe einen Stellvertreter in meinem Sohn. Wir haben gezeigt, daß wir sehr wohl imstande sind, unsere Errungenschaften mit der Waffe in der Hand zu schützen und zu verteidigen. Es wird nie wieder einen deutschen Faschismus geben, nicht hier auf unserem Boden. Gewiß, es ist schwer, das Leben ist schwer, alle unsere Entscheidungen sind es. Immerhin, deinen Ehrendienst hast du geleistet. Maurer. Soldat? Willst du das? Ich könnte mir vorstellen, daß du Architekt wirst oder Bauingenieur.
Bauingenieur?
Nach vierjähriger Dienstzeit geht Wolfgang mit einem Unteroffiziersgrad ab, er bewirbt sich an einer technischen Universität. Seine Taten räumen ihm Vorrang bei der Berücksichtigung ein. 1962 beginnt er sein Studium.
Aber im Laufe des Studiums geschieht etwas. Zu Anfang verläuft noch alles glatt und ohne Hindernis, da scheinen noch alle einfachen Regeln zu gelten. In den Fächern Philosophie und Gesellschaftswissenschaft kommen jedoch plötzlich heikle Fragen auf den Tisch, Fragen der Revolutionstheorie, Fragen der Determinierung, Fragen ... die Zeit ist weitergegangen, sie unterscheidet sich von der Aufbruchstunde, die der Vater Kiskos mitbestimmte.
Der Vater: Was meinen wir? Es ist durchaus nicht entschieden, ob unter diesen Bedingungen der Evolution nicht auch der revolutionäre Zug innewohnt.
Ist das nicht ein pragmatischer, ein taktischer Zungenschlag, Vater? Der Marxismus determiniert doch deutlich ...
Der Vater: Ja, unter klassenantagonistischen Bedingungen, bei uns sind diese Widersprüche aber aufgehoben. Ich nehme an, du kommst zum ersten Mal mit der exakt wissenschaftlichen Fragestellung unter heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten in Berührung. Vielleicht läßt sich unser gesellschaftliches Ideal am ehesten in straff organisierten Gruppen verwirklichen, ich meine, die Volksarmee hat dich natürlich vorgeprägt.
Ich wollte auf etwas ganz anderes zu sprechen kommen, Vater. Die aufgehobenen Widersprüche ...
Der Vater: Widersprüche kann man nicht aufheben, sie stellen eine unlösbare Verknüpfung dar, lehrt unsere marxistische Theorie.
Vater, ich denke manchmal, daß ich gar nichts weiß. Philosophie, Gesellschaftswissenschaft, Soziologie, was sich vom Katheder vermitteln läßt, das wurde mir doch vermittelt? Aber sonst stehe ich hilflos da. Du hattest einen riesigen Vorteil, du hattest die Lebensschule schon hinter dir, als du mit der Theorie in Berührung kamst. Ich soll aus der Theorie auf die gesellschaftliche Praxis schließen. Die Leute sind nicht alle gleich, nicht mal in Bezug auf die Theorie. Jeder hat seinen eigenen Sozialismus, kann man vielleicht sagen, das ist Unsinn. Natürlich.
Hättest du nicht lieber Philosophie studieren sollen, Wolfgang? Bauingenieur, was verstehst du denn vom Bau? Eilig ausgebildet, vielleicht zu eilig. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Wir sollten es überlegen. Ich mache mir Sorgen um dich, mein Junge.
Während eines Studentensommers, eines Einsatzes in Schwedt an der Oder, trifft Wolfgang Kisko auf eine Gruppe junger Leute. Die Sache hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte. Wochenlang war an der Universität geworben worden, bis sich eine Schar von hundertfünfzig Studenten für einen Einsatz in Kasachstan gebildet hatte. Kasachstan fiel ins Wasser, aus irgendeinem Grund, dafür wurde in aller Eile Schwedt eingesetzt. Die Organisatoren verschickten Telegramme an die Kasachstan-Studenten, es waren Ferien, teilten den neuen Einsatzort mit. Statt der erwarteten hundertfünfzig erschienen nur ein paar Dutzend. Die fuhren nach Schwedt, meldeten sich an einem Montag bei einem Bauleiter, dreißig bis vierzig junge Männer und Frauen aller möglichen Studienrichtungen, wenig Bauleute.
Der künftige Bauingenieur Kisko wird zum Sprecher gewählt.
Der Bauleiter: Ich habe gestern erst das Telegramm bekommen, daß ihr hier aufkreuzt, wie viel? Ungefähr vierzig. Paßt mal auf, ich habe überhaupt keine Arbeit für euch. Na, die Sache ist die, bis zum Oktober ist ein Trakt an das Fernheizwerk anzuschließen. Die Wohnungen stehen, die Mieter können einziehen, irgendwo ist das mit der Trasse versaubeutelt worden, solche Scheiße habe ich hier jeden Tag am Halse. Wir haben zwei Bagger angefordert, die sind auch da, in ein paar Tagen hätten wir die Gräben fertig. Da kommt ihr mir dazwischen. Außerdem hab ich mehr zu tun, als auf euch aufzupassen. Stell deine Leute mit Hacke und Spaten ran, ich weiß, das ist lachhaft, aber was soll ich machen? Ich bin für euch abgestellt, als hätte ich keine anderen Sorgen. Erklär es deinen Jungens, die so was ausdenken, müssen ja wohl Sägespäne im Kopp haben. Ihr könnt ja nicht mal 'ne Kelle halten.
Die Studenten liegen in einem fertigen Wohnhaus, verteilt auf die einzelnen Wohnungen. Sie gründen eine Brigade, und sie haben einen glänzenden Einfall. Sie werden die Probe aufs Exempel machen, gemeinsame Arbeit, gemeinsames Leben. Was sie verdienen, soll zu gleichen Teilen verteilt werden, kommunistisch leben wird geprobt. Tagsüber stehen sie in den Gräben, hacken, schaufeln, beträchtliche Unterschiede in der Leistung zeigen sich. Es gibt Wühler und Drückeberger, bald reißt sich alles nach den Aufträgen, die von der Handarbeit befreien. Abends sitzen sie in einem großen Zimmer, reden über ihre Erfahrungen. Es wird geraucht, Tee oder Kaffee getrunken.
Ich denke Folgendes, bei Handarbeit, ich meine, auf solcher Produktionsstufe läßt sich Kommunismus überhaupt nicht verwirklichen. Hier spielen andere Probleme mit hinein.
Auf mechanistische Weise läßt sich das nicht erklären, du vergißt die Rolle des Bewußtseins.
Du unterstellst mir Mangel an Bewußtsein, aber ich sage dir, du hast in den letzten drei Tagen kaum zwei Stunden auf der Baustelle wirkliche Arbeit geleistet. Sieh dir mal meine Pfoten an.
Sollen wir nun dieses System wieder aufgeben, wie ist eure Meinung?
Wir haben nen schönen Reinfall erlebt. Die sollen die Bagger einsetzen.
Der Bauleiter: Hör mal, Wolfgang, ich frage mich wirklich, wo ihr lebt. Die Arbeiter lachen euch aus, und die leisten das Zehnfache. Ihr solltet bloß ein paar hundert Meter Graben ausheben. Jetzt sitzt du da und verlangst von mir, daß ich die Bagger einsetze? Ich mach es auch, mir bleibt gar nichts übrig, ich habe Termine. Von deinen vierzig Mann sind kaum noch fünfundzwanzig da, ich mach drei Kreuze, wenn der Rest weg