Wenn sie dann erschreckt und überrascht die schönen dunkelblauen Augen auf ihn richtete, gedachte er im Nu ein höchst geistreiches Gespräch mit ihr zu beginnen. Phantasie und Wirklichkeit wollte er in eins verweben, wollte Sir Bussy mit Trimalchio vergleichen, in einer kurzen, aber lebensvollen Darstellung das Wirken des Petronius schildern und schließlich allerlei merkwürdige und amüsante kleine Geschichten über die Königin Elisabeth oder Kleopatra oder andere historische Persönlichkeiten zum besten geben. Und sie, davon war er überzeugt, würde ihm hingerissen lauschen.
»Sagen Sie mir«, sprach er zu einem jungen Mann mit Monokel, der sich im Gedränge an ihm vorüberschob. »Sagen Sie mir«, wiederholte er.
Indem er die Hand bewegte, merkte er, daß mit seinen Fingern irgend etwas Sonderbares los war. Dieser Umstand fesselte seine Aufmerksamkeit so sehr, daß er zunächst nicht weitersprach.
Der Ausdruck von Ungeduld in des jungen Mannes Gesicht verwandelte sich in einen des Interesses und der Sympathie. »Was soll ich Ihnen denn sagen?« fragte er, indem er erst Mr. Parhams fast völlig selbstständig gewordene Hand und dann dessen ganze Person durch sein Monokel hindurch betrachtete.
»Wer ist diese reizende Dame in Schwarz und – Jett nennt man das, glaube ich, da drüben?«
»Die Duchess von Hichester, mein Herr.«
»Besten Dank«, sagte Mr. Parham.
Doch sein Verlangen, die Dame anzusprechen, war verflogen. Er war dieses törichten, lärmenden, nächtlichen Festes, dieses ganzen hohlen Flitterkrams müde. Ein ungeheuerliches Fest war es. Ein Fest außerhalb der Geschichte, das nirgends anfing und nirgends hinführte. Ein Durcheinander. Herzoginnen und Tänzerinnen. Professoren, Plutokraten und Schmarotzer. Er wollte gehen. Doch eines hielt ihn noch eine Weile auf: sein Klapphut war ihm abhanden gekommen. Er befühlte seine Rocktaschen und betrachtete den Fußboden ringsum mit prüfendem Blick. Der Hut war weg.
Sonderbar!
In einiger Entfernung sah er einen Herrn, der einen Klapphut in der Hand trug. Einen Klapphut, just wie der seine, das sah er deutlich. Sollte er ihn dem Herrn mit einem ernsten »Verzeihen Sie« aus der Hand reißen?
Wie aber sollte Mr. Parham beweisen, daß es sein Klapphut sei?
4
Notturno
Mr. Parham fuhr aus dem Schlafe. Nun erinnerte er sich ganz deutlich daran, daß er seinen Klapphut auf den Tisch im Speisesaal gelegt hatte. Irgend ein übereifriger Bediensteter hatte ihn wahrscheinlich von dort weggenommen. ›Morgen früh muß ich an das Hotel Savoy schreiben‹, überlegte er.
An die Direktion des Hotels Savoy. Oder einfach an das Hotel Savoy. »Ich ersuche Sie höflichst …« Nicht zu steif, aber auch nicht zu familiär … Ta ra ra ra – tim ta – pum pum.
Wenn er schon seinen Klapphut dortgelassen hatte, so schien er andererseits fast die ganze Jazzkapelle mit nach Hause gebracht zu haben. Sie saß ihm im Kopf und war da mit der unbezähmbaren Kraft, die Negermusikanten eigen ist, immer noch unermüdlich an der Arbeit. Ein großes Kopfweh, kreisrund und aus Erz, diente ihr als Podium. Schlafen war unter diesen Umständen unmöglich, etwas zu lesen verspürte Mr. Parham auch keine Lust. Also wollte er ganz still im Dunklen liegen bleiben – oder richtiger gesagt, im schwachen Licht der beginnenden Morgendämmerung – und sich den Gedanken hingeben, die die Musik in ihm wachrief.
Es war ein dummer Abend gewesen.
Oh! Ein dummer Abend!
Mr. Parham fand, daß er seine Zeit besser hätte nutzen können, hohlen Vergnügungen nachgegangen sei, einen Mangel an Folgerichtigkeit und Selbstbeherrschung an den Tag gelegt habe.
Diese Gaby Greuze – sie hatte sich über ihn lustig gemacht. Jedenfalls hätte sie sich über ihn lustig machen können. Hatte sie sich tatsächlich über ihn lustig gemacht?
Das Orchester in seinem Schädel beschwor die Erinnerung an die Gestalt des Sir Bussy herauf, wie er einsam und schutzlos dastand und zu den Klängen der üppigen subtropischen Musik den Kopf wiegte. Niedergeschlagen und gelangweilt hatte er in dem Augenblicke geschienen. Man hätte sich da ganz leicht an ihn heranmachen und ihn fangen können. Mr. Parham hätte zu ihm hingehen und leise, aber deutlich irgend etwas Gewichtiges zu ihm sagen können.
»Vanitas vanitatum«, hätte er zum Beispiel sagen können und da man nie weiß, auf wie viel Unwissenheit man bei diesen neuen Männern stoßen mag, hätte sofort taktvoll die Übersetzung des Wortes hinzugefügt werden müssen: »Eitelkeit der Eitelkeiten.«
Und warum? Weil er keine Vergangenheit habe. Weil er den Zusammenhang mit der Vergangenheit verloren habe. Ein Mann ohne Vergangenheit habe auch keine Zukunft. Und so weiter und so fort, auf den vorwärts gerichteten Blick hinsteuernd – und auf die einflußreiche Wochenzeitschrift.
Doch anstatt solches gerade heraus und deutlich Sir Bussy selbst zu sagen, war Mr. Parham umhergewandert und hatte es Gaby Greuze gesagt, Lady Glassglade, diesem und jenem Unbekannten, allen möglichen Leuten der alten Ordnung. »Ich bin nicht an rasches Handeln gewöhnt«, stöhnte Mr. Parham. »Ich gehe nicht geradewegs aufs Ziel los. Ich lasse die Gelegenheit ungenützt verstreichen.«
Eine Weile lag er und brütete darüber, ob es nicht für alle Gelehrten, alle Denker gut wäre, wenn man sie zwänge, mindestens einmal am Tage irgend einen bestimmten Entschluß zu fassen. Dann würden sie an Willenskraft gewinnen. Aber – würden sie nicht an Schärfe des Denkens verlieren? An Feinheit des Geistes?
Bald war seine Phantasie wieder bei einem Gespräche mit Sir Bussy angelangt.
»Sie dünkt diese Art zu leben vergnüglich«, legte er sich zurecht. »Das ist ein Irrtum. Solch ein Leben ist nichts. Ist weniger als nichts. Sinnlose Üppigkeit ist es.«
»Üppigkeit.« Ein gutes Wort. Das gegenwärtige Zeitalter war eines der Üppigkeit. Wenn man eine Parallele suchte, las man am besten Petronius. Als Rom noch die ganze Welt unterjochen wollte. Das war auch ein Zeitalter der Üppigkeit gewesen. Da hastete jeder von einem hohlen Vergnügen zum andern. Altehrwürdige Bräuche wurden aus reiner Neuerungssucht fallen gelassen. Diese lächerlichen kleinen Hüte zum Beispiel, die man jetzt abends anstelle des stattlichen Klapphutes von seinerzeit trug. (Wenn man es recht überlegte, lohnte es sich kaum, wegen des verlorenen altmodischen Klapphutes an das Hotel Savoy zu schreiben. Er mußte sich ja doch solch ein albernes, modernes Hütchen anschaffen.) Keinerlei Rangunterschiede. Überall größte Zwanglosigkeit. Herzoginnen, Gräfinnen, Diplomaten, gesuchte Ärzte unterhalten sich fröhlich mit hübschen Choristinnen, dunklen Abenteurerinnen, Künstlern, Geschäftsleuten, Schauspielern, Kinostars, Negersängern, Casanovas und Cagliostros – ja, haben geradezu Freude an solchem Umgang. Keine Ordnung, kein Sinn für die jedem zugewiesene Aufgabe. Einem Burschen wie diesem Sir Bussy sollte man sagen: »Durch eine seltsame Laune des Zufalls bist du zu Macht gelangt. Doch hüte dich vor einer Macht, die nicht an die Tradition anknüpft und sie weiter entwickelt. Gedenke der ernsten großen Gestalten der Vergangenheit, als da sind Caesar, Karl der Große, Johann d’Arc, Königin Elisabeth, Richelieu (Sie sollten mein kleines Buch über Richelieu lesen), Napoleon, Washington, Garibaldi, Lincoln, William Gladstone; gedenke der Könige, Priester und Propheten, Staatsmänner und Denker, aller derer, die die Völker groß gemacht haben. Gedenke der wachsenden Zielbewußtheit, des steten Vorwärtsstrebens. Gedenke der Erzengel im Glanz ihrer Rüstung, der symbolischen Bedeutung ihrer schönen, ernsten Gesichter. Denk an die Bestimmung unseres Imperiums! Die Bestimmung Frankreichs! Unsere glorreiche Flotte! Unsere schlachterprobten Flaggen! Das Schwert der Macht ist nun in deiner Hand! Willst du damit nichts anderes tun als zahllose Sandwiches für ein Souper schneiden?«
Aufs neue sprach Mr. Parham inmitten der Nacht mit lauter Stimme. »Nein!« sagte er.
Er erinnerte sich plötzlich an den Champagner.
Üppigkeit war wirklich ein sehr gutes Wort. Eine stattliche Reihe schärfster Artikel gegen die modernen Tendenzen würde sich unter diesem allgemeinen Titel zusammenfassen lassen, wenn man nur eine Wochenzeitschrift sein eigen nennte!
Widerwärtig,