Er rief auf dem Notebook die Zeitungsberichte auf, die von Damis' Prozess berichteten. Er hatte ein sechzehnjähriges Mädchen entführt, um von deren reichen Tante Lösegeld zu erpressen. Alles war auf unerklärlicherweise schiefgelaufen. Genaueres war nie bekannt, Namen nicht veröffentlicht worden. Der Boss stutzte. Die Entführte wäre heute achtzehn Jahre, überlegte er. Könnte die überraschende Befreiungsaktion des Mädchens nicht mit der seltsamen Fähigkeit, Gedanken lesen zu können, zu tun haben? Er musste um jeden Preis herausfinden, wer das Mädchen gewesen war. Seine IT-Spezialisten würde er darauf ansetzen, die Passagierlisten der Fluglinien, die Südafrika anflogen, nach einer dreiköpfigen Familie mit einer achtzehnjährigen Tochter namens Lena zu durchsuchen.
Er schnaufte befriedigt. »Damis soll in Gottes Namen versuchen, das Mädchen zu finden. Wenn er scheitert, werden meine Geschäftspartner das erledigen.« Ein paar unkontrollierte Blähungen entfuhren dem massigen Körper. »So oder so, das Schicksal des unzuverlässigen Kerls ist besiegelt, hopp und weg. Ein Schlangenbiss, ein Angriff eines Hippos, ein Pistolenschuss in einem der elenden Townships, das passierte unvorsichtigen Touristen ratzfatz, wenn sie sich nicht vorsehen. Kein Hahn wird dort nach einem verschwundenen Bulgaren oder Griechen krähen. Mitwisser kann ich nicht gebrauchen.«
Per Smartphone gab er seinem Chauffeur das verabredete Zeichen. Nur widerwillig bewegte sich der Mann auf den Van zu.
›Die Idee, einen frischen Fahrer zu engagieren, ist garnicht schlecht‹, dachte der Boss, ›Ich schmeiße den Kerl raus. Ob ich es mit einer Frau versuche? Mit der supertollen Lydia, wenn sie aus Afrika zurückkehrt? Prima Idee!‹
Damis sah den abfahrenden Autos nach. Intensiv pumpte er die reine, kalte Luft in die Lungen, erst als die Autos außer Sicht waren, wagte er vor Ekel auszuspucken. »Mit dir in einem Auto?« Vor Entsetzen über die Vorstellung stellten sich seine kurzen Nackenhaare unter der Perücke empor. Die drei Jahre in dem verdammten Gefängnis, die Erniedrigung, der Gestank der ungewaschenen Körper der Mitgefangenen, der widerliche Fraß, den sie vorgesetzt bekamen, hatten ihm schon genug zugesetzt. Was er soeben gesehen und gerochen hatte, setzte dem die Krone auf. »Nein, wenn ich in Südafrika bin, werde ich mich absetzen. Nach Griechenland komme ich nicht mehr zurück. Werden sehen, was sich dort anbietet.«
Er setzte sich ins Auto und rollte die Passstraße hinunter nach Volos.
6. Von Elefanten und Löwen
Lena schreckte aus einem traumlosen Tiefschlaf empor. Ihr Schädel brummte. Dumpf konnte sie sich erinnern, dass gestern Abend ein sogenanntes Buschbraai stattgefunden hatte, mit viel zum Essen und noch mehr zum Trinken. ›Wie bin ich im Übrigen ins Bett gekommen?‹, fragte sie sich und blickte zum Fenster hin. Der Morgen graute. Man hörte dezentes Rufen, sodann energisches Klopfen. »Weckdienst!«
»Yebo!«, rief Princess, »Ja, wir sind munter!« Gähnend kletterte sie aus dem Bett. »Los mach schon, die Duschen sind anderenfalls von den Jungs besetzt!« Princess deutete auf den Tisch. Eine halblange Hose, ein kurzarmiges Hemd, ein breitkrempiger Hut, Kniestrümpfe, alle khakifarben und ein paar derbe Stiefel aus Wildleder lagen dort bereit. »Zieh nachher die Sachen an. Ich habe die passenden Größen für dich herausgesucht.«
»Sieht das nicht affig aus, wenn ich als Ranger verkleidet herumlaufe?«
»Anordnung vom Chef!«, beschied Princess sie knapp. »Zack, zack, das Frühstück wartet!«
Zwei Jeeps verließen das Camp, in jedem quetschten sich zehn Personen zusammen, am Steuer saßen die beiden Game Guards. Der Himmel war wolkenlos, im Osten loderte der Himmel in Rot und Orange.
Sie fuhren nordwärts, überquerten auf einer Brücke den Letaba, verließen die asphaltierte Straße und holperten auf einer Schotterpiste in Richtung Mozambique. In der Nähe des Flusses hielten sie neben einem Kameldorn-Baum, der ein Nest von Webervögeln beherbergte.
»Unter solchen Bäumen parkt man besser nicht, man muss auf Schlangen achten, welche die Nester nach Beute durchsuchen«, erklärte Jan. »Wäre nicht angenehm, wenn eine herunterfällt und beschließt, mit uns mitfahren zu wollen! Schätze, dass sie um diese Zeit noch schlafen.«
»Da! Seht die Hippos! Das müssen über hundert sein!« Aufgeregt deutete Lena zum Fluss hin. Tiere planschten trotz der morgendlichen Kühle im Wasser, andere lagen am Ufer auf der Seite, darunter viele Babys, streckten alle Viere von sich und schliefen. Zwei Hippos standen auf ihren stämmigen Beinen wie Statuen und stützten den massigen Kopf in den Sand. Konnten die Tiere etwa im Stehen schlafen?
Sie verließen die ausgedehnten Mopani-Wälder, welche die Flussufer einsäumten und rumpelten querfeldein durch eine Savanne. Der Boden war vorwiegend mit gelblichen Gräsern und niedrigem, spärlich wachsendem Buschwerk bedeckt, aber es gab auch ausgedehnte kahle Sandflächen in der Farbe von lichtem Ocker. In regelmäßigen Abständen sah man Inseln von Marula-Bäumen und gelbblühenden Kameldorn-Büschen.
Der Game Ranger machte ein Zeichen, die Wagen hielten. »Alles aussteigen!«, befahl er.
Lena bekam wachsweiche Knie. ›Was, wenn jetzt ein Löwenrudel hinter dem nächsten Busch hervorspringt?
Jan schien Lenas Ängste gespürt zu haben, er schloss eine Klappe am Jeep auf und entnahm drei Gewehre, für sich und die Game Guards. Der Anblick der bewaffneten Männer beruhigte Lena.
Die Sonne war über den Bergen aufgegangen und vertrieb die weißlichen Nebelfetzen, die über der Savanne lagen. Sie marschierten los, hielten sich aber abseits von Bäumen und Büschen. In einem Baum vor ihnen war aufgeregtes Schreien zu hören.
»Ossy, nach vorne!«, befahl der Ranger. »Warum lärmen die Affen vor uns? Was beunruhigt sie?«
Sich als Erster präsentieren zu müssen, schmeckte Ossy partout nicht. Mit hängenden Schultern stiefelte er los, schlagartig straffte sich seine Haltung. Er blieb stehen, hob einen Arm und winkte die Gruppe heran.
»Was hast du entdeckt?«
Ossy schien aufzublühen, endlich durfte er seine Bücherweisheit, unter der Lena gestern gestöhnt hatte, loswerden. Er deutete auf den Sandboden. »Wir sehen zwei Fußabdrücke einer Raubkatze. Der hier muss von der Vorderpranke, der andere von der Hinterpranke sein«, legte er los. »An dem Abdruck sieht man nur vier Zehen, und hier, zumindest angedeutet, die fünfte Zehe. Folglich«, fuhr er siegessicher fort, »kann es sich nur um einen Gepard handeln. Der hat die Meerkatzen im Baum da vorne beunruhigt!«
»Gebongt, mein Junge«, sagte Jan. Ossy strahlte zu Princess hin, die ihm bewundernd zulächelte. Jan holte ein Notizbuch aus der Tasche und kritzelte hinein. Als die Gruppe den Baum erreicht hatte, war der Gepard schon über alle Berge, die Meerkatzen lärmten jetzt der Menschen wegen.
Bis gegen Mittag hatten alle Anwärter ihre Kenntnisse im Spurenlesen unter Beweis stellen können und Jan schien mit seinen Schützlingen zufrieden. Die Sonne brannte vom Himmel, alle lechzten nach einem schattigen Plätzchen. Lena war heilfroh um ihren Hut, der sie vor einem Sonnenbrand schützte.
Im Moment überquerten sie eine staubige Ebene, als sich am Horizont eine Staubwolke zeigte. Jan blickte durch den Feldstecher und pfiff durch die Zähne. »Elefanten«, murmelte er. »Sie kommen nicht direkt auf uns zu, also keine unmittelbare Gefahr. Zusammenrücken, erhöhte Vorsicht!«
›Wieso Gefahr?‹, dachte Lena, ›Sind Elefanten uns Menschen gegenüber gewalttätig?‹ Davon hatte sie noch nie gehört.
Durch das Glas suchte Jan die Umgebung genau ab. »Rechts von uns ist eine Baumgruppe. Zügig voran!«,