Allerdings führt diese Verhältnissetzung ontologisch in erhebliche Probleme: Es wird von Christus ausgesagt, dass er wesensgleich mit dem Vater sei. Nicht vom ewigen Logos ist die Rede, mit dem Christus erst am Ende des Bekenntnistextes identifiziert wird, sondern bereits vom menschgewordenen Sohn Gottes. Der Menschgewordene ist also wesensgleich mit dem Vater „der Gottheit nach“. Der Begriff homousios wird demnach auf die göttliche Natur bezogen, an der die menschliche Natur keinen Anteil hat, wohl aber der Menschgewordene. Steht damit die Person Christi innerhalb oder außerhalb des homousios? Steht sie innerhalb, so kann sich Christus nicht der Person nach vom Vater unterscheiden. Die Einigung der Naturen würde sich vielmehr „der Gottheit nach“ vollziehen. Dann wäre der Hypostasenbegriff noch nicht dazu verwendet worden, Vater und Sohn zu unterscheiden. Worin allerdings der Unterschied zwischen beiden ontologisch besteht und was es dann bedeuten kann, dass Christus „der Gottheit nach“ vom Vater vor den Zeiten geboren wurde, wenn doch die ontologische Differenz zwischen Vater und Sohn auf der Ebene des Wesens und der Gottheit nicht angegeben werden kann, bleibt dann im Dunkeln.
Steht die Person dagegen außerhalb des homousios, kann nicht Christus mit dem Vater wesensgleich sein, wie es aber im Chalcedon behauptet wird. Nicht die Person Christi wäre mit dem Vater wesensgleich, sondern nur seine göttliche Natur wäre mit der göttlichen Natur des Vaters wesensgleich. In diesem Fall deutet das Chalcedonense eine hypostatische Differenz zwischen Vater und Sohn an: Beide sind zwar in ihrem Wesen gleich, aber in ihrer Person verschieden. Außerdem würde daraus folgen, dass die hypostatische Union der göttlichen und der menschlichen Natur – pointiert ausgedrückt – keine natürliche Einheit ist. Sie ergibt sich weder aus der göttlichen noch aus der menschlichen Natur. Sie ist nicht einmal eine für Gott wesentliche Einheit, weil sie sich außerhalb seiner Gottheit vollzieht. Verkürzt gesagt: Die Einheit der Naturen in Christus ist für seine Person wesentlich, aber für Gott unwesentlich. In diesem Fall droht Christus sogar zu einem Dritten zu werden, das weder Gott noch Mensch ist: Er ist entweder eine unwesentliche Entität, die nicht für sich selbst steht, oder sein Wesen ist verschieden vom Wesen eines Menschen oder vom Wesen Gottes.
Es droht also ein Dilemma, das darin besteht, dass die Einigung der beiden Naturen in Christus entweder nicht göttlich ist oder so zum göttlichen Wesen gehört, dass man ebenso gut vom Vater sagen könnte, dass er von Maria geboren und gekreuzigt wurde, gestorben ist usw. Gerade weil das Chalcedonense das christologische Problem mit der innertrinitarischen Struktur Gottes verbindet, nämlich über den Begriff „homousios“, werden auch beide Dogmen aneinander geknüpft. Allerdings erweitern sich auch die offenen Flanken für sie beide.
Beide Optionen, ob die Hypostase Christi innerhalb oder außerhalb der Gottheit steht, wollen dennoch daran festhalten, dass sich der Sohn vom Vater in einem präzisen Sinn unterscheidet. Nun gehört aber zum Wesensbegriff, zur Ousia, dass sie zumindest das Selbstsein eines Gegenstandes wiedergibt: Das Wesen gibt an, dass ein Gegenstand er selbst ist. So schreibt etwa Aristoteles: „Denn selbständige Abtrennbarkeit und Bestimmtheit (das Dies-da) wird am meisten dem Wesen zugeschrieben.“[32] Wenn aber Vater und Sohn der Gottheit nach wesensgleich sind, so sind sie darin ununterscheidbar. Sie sind dann in ihrer Unterschiedlichkeit der Gottheit nach nicht wesentlich bestimmt. Was sie unterscheidet, ist unwesentlich. Ein wesentlicher Unterschied besteht nur im Hinblick auf ihr Selbstsein. Denn das „Dies-da“ des Sohnes ist vom „Dies-da“ des Vaters abgetrennt und bestimmt. Aber diese Unterscheidung steht jenseits der innergöttlichen Indifferenz und ist daher der Gottheit nach unwesentlich.
Wenn daher Christus die Einigung der beiden Naturen vollzieht, so ist diese Einheit der Gottheit nach unwesentlich. Das gilt sowohl für die Option, dass die Personalität und Hypostase es ist, die Christus vom Vater unterscheidet, als auch für die Option, dass beide durch irgendetwas anderes unterschieden sind: Die Unterscheidung wäre unerheblich der Gottheit nach. Es wäre folglich auch unwesentlich der Gottheit nach, dass Christus „wahrer Gott“ ist, denn der Gottheit nach bestünde eine Indifferenz der Homousia, die es nicht erlaubt, Christus vom Vater zu unterscheiden.
Das Bekenntnis von 451 scheint also den Kompromiss darin finden zu wollen, dass die Einigung der zwei Naturen in Christus für die Gottheit unwesentlich ist. Die Gottheit wird deshalb nicht durch die Menschwerdung verändert, weil die Einigung unwesentlich ist. Dieses Ergebnis lässt sich auch nicht dadurch korrigieren, dass man den Begriff „homousios“ mit „wesensgleich“ übersetzt und dann annimmt, dass Vater und Sohn zwar das gleiche Wesen haben, aber numerisch unterschieden sind. Es ist also keine Lösung vorzuschlagen, dass Vater und Sohn beide für sich das Wesen Gottes haben und dass das Wesen Gottes damit zweimal vorkommt.[33] Denn die numerische Unterschiedenheit kommt in der Ousia nicht vor. Zum Vergleich: Frauen und Männer sind wesensgleich, weil sie beide Menschen sind. Dass das Wesen des Menschen mehrfach realisiert ist, heißt aber nicht, dass zum Wesensbegriff des Menschen die numerische Differenz dazugehört. Denn sonst wäre das Wesen Mensch nicht erst bereits bei einem Menschen realisiert, sondern erst bei mehreren Menschen. Das Wesen des Menschen wären dann mehrere Menschen, Frauen und Männer. Keine Frau und kein Mann wäre für sich genommen ein Mensch.
Kommentar und Weiterführung
Chalcedon stellt zwei Hauptbehauptungen auf:
1. Christus ist mit dem Vater wesensgleich der Gottheit nach.
2. Die Einigung der beiden Naturen in Christus vollzieht sich in seiner Person und Hypostase.
Daraus lässt sich folgern, dass – unter der Zusatzprämisse aus dem Nicaeno-Konstantinopolitanum, die im Chalcedonense wiederholt wird, dass Christus vom Vater geboren worden und folglich von ihm unterschieden ist – die Person und Hypostase Christi nicht zum Wesen der Gottheit gehört. Soll Christus aber kein Drittes sein, so darf er sein „Dies-da“ nicht unabhängig vom göttlichen Wesen generieren. Gibt es dafür eine Denkmöglichkeit? Die Herausforderung für ein entsprechendes Modell besteht darin, den Wesensbegriff nicht darauf festzulegen, dass etwas – ein „Dies-da“ – eine selbstständige Bestimmtheit besitzt. Wenn nämlich Christus kein eigenes Wesen hat, aber doch ein Wesen haben soll, dann muss er es durch etwas anderes haben. Christus kommt dann also keine selbstständige Abtrennbarkeit und Bestimmtheit zu, wie es Aristoteles für das Wesen ausgesagt hat, sondern er besitzt eine unselbstständige Bestimmtheit.
Immerhin deutet das Chalcedonense eine solche unselbstständige Bestimmtheit an, wenn es Christus als vom Vater vor der Zeit geboren charakterisiert. Mit dieser Formulierung zitiert das Chalcedonense das Nicaeno-Konstantinopolitanum. Christus wird dort bezeichnet als „wahrer Gott aus wahrem Gott“, „der aus dem Vater geboren ist vor allen Zeiten.“ Somit wird Christus durch das Verhältnis zum Vater bestimmt. Durch den Bezug zum Nicaeno-Konstantinopolitanum kann man aber auch hinzufügen, dass die Bestimmtheit Christi nicht nur durch den Vater, sondern auch durch den Heiligen Geist erreicht wird. Denn nach dem Bekenntnis von 381 wird die Zeugung Christi zum Menschen dem Heiligen Geist zugeschrieben. Da nun nach dem Chalcedonense der Menschgewordene mit dem Vater wesensgleich ist, ist Christus also nicht allein durch das vorzeitige Verhältnis zum Vater bestimmt worden, sondern zugleich durch das Zeugungsverhältnis des Heiligen Geistes „am Ende der Tage“. Es kann also von Christus ausgesagt werden, dass er durch den Vater und den Heiligen Geist bestimmt wird. Unter der Annahme also, dass Christus kein selbstständiges Wesen zukommt oder dass seine Hypostase nicht zum göttlichen Wesen gehört, kann das Wesen Christi und seiner Person bestimmt werden über das Verhältnis des Vaters und des Heiligen Geistes zu ihm.
Das Chalcedonense räumt damit eine neue Möglichkeit ein, das Wesen eines Gegenstandes zu denken, nämlich nicht durch seine Selbstständigkeit, durch seine Substanz etwa, sondern durch seine Unselbstständigkeit und Relationalität. Etwas kann wesentlich bestimmt werden durch das, was ein Verhältnis zu ihm besitzt. Das wird im Chalcedonense nicht ausgeführt, und doch scheinen sich die internen Paradoxien des Bekenntnistextes nur dadurch ausgleichen zu lassen, dass man Relationalität als Kennzeichen für das Wesen der drei Hypostasen anführt. Tatsächlich lassen sich die drei Hypostasen eindeutig über ihre Verhältnisse bestimmen: Der Sohn