Aber selbst wenn die Lutheraner eine ontologische Nachzeitigkeit erwogen hätten, wäre das Problem nicht gelöst. Wenn sie also behauptet hätten, dass die menschliche Natur Christi im Stand der Erniedrigung noch keine göttlichen Eigenschaften empfangen hätte, sondern erst im Stand der Erhöhung nach der Himmelfahrt, könnte Christus nur in widersprüchlicher Weise als Mensch zur Rechten des Vaters sitzen. Zudem wäre die menschliche Natur erst dann in Gottes Herrlichkeit eingegangen, wenn es sie schon nicht mehr gegeben hätte. Wir werden noch untersuchen, ob sich etwa die Reformierten dieses Problems wirklich entledigen konnten.
Noch eine weitere Spur legt die Konkordienformel, die das Problem der zwei Stände mit einer wichtigen ontologischen Differenz abmildert: Sie unterscheidet nämlich zwischen der menschlichen Natur und der „Knechtsgestalt“ Christi. Er hat „die Knechtsgestalt, ‚und nicht die Natur’ nach seiner Auferstehung ganz und gar hingelegt“ (808). Nachdem die knechtische Gestalt abgelegt worden ist, ist die menschliche Natur Christi zur Rechten der Majestät Gottes erhöht (1032f.). Versteht man „Knechtsgestalt“ als eine ontologische Kategorie ebenso wie den Naturenbegriff, so könnte verständlich werden, warum die göttliche Natur ihre Eigenschaften bis zur Himmelfahrt Christi nicht vollständig in der menschlichen Natur wirkt. Die „Knechtsgestalt“ wäre ein Trennungsstück zwischen den Naturen. Nachdem dieses Trennungsstück weggenommen worden ist, dominiert die göttliche Natur die menschliche Natur. Christus wäre jetzt im Stand der Erhöhung zwar nicht mehr sterblich, aber er wäre ja wirklich gestorben. Er wäre nicht mehr fleischlich, aber er hätte Fleisch gehabt. Er wäre zwar nicht mehr leiblich, aber aufgrund seiner allgegenwärtigen Räumlichkeit könnte er sich „in, mit und unter“ anfassbaren Medien räumlich und somit leiblich manifestieren. Der Leib Christi wird nach der Konkordienformel „mündlich“ empfangen, „doch nicht auf kapernaitisch[39], sunder übernatürliche, himmlische Weise“ (799). Es ist der Leib des Gekreuzigten, der nach Ablegung der Knechtsgestalt nur durch die Majestät der göttlichen Natur in Brot und Wein vermittelt wird: „denn kein Mensch das fürgesetzte Brot und Wein zum Leib und Blut Christi machet, sonder Christus selbst, der für uns gekreuzigt ist“ (998). Es wird also nicht bestritten, dass beim Abendmahl Brot und Wein empfangen wird (993), die durch die allgegenwärtige Majestät Christi zu seinem Leib werden. Die Knechtsgestalt ist damit ein wichtiges Verbindungs- und Trennungsstück, das, wenn es weggenommen wird, es schließlich erreicht, dass die menschliche Natur durch und durch von der göttlichen Natur durchdrungen ist und zugleich sie selbst bleibt, indem sie gewesen ist. Die menschliche Natur wird so nicht aufgelöst, denn sonst wäre die Geschichte Christi aufgelöst, oder die göttliche Natur hätte gelitten und wäre gestorben. Die Unterordnung der menschlichen Natur unter die göttliche wäre vielmehr geschichtlicher Art: Sie hat ewigen Bestand, weil sie gewesen ist. Im Stand der Erhöhung ist sie zwar nicht mehr sterblich, aber ihre Sterblichkeit hat sie geschichtlich realisiert und abgeschlossen.
Interpretiert man den Begriff „Knechtsgestalt“ ontologisch, so ist aber die Frage, woher sie kommt. Ist sie ein Werk der göttlichen oder der menschlichen Natur oder sogar ein Synergieeffekt von beiden? Mir scheint, dass sie ein Effekt beider Naturen ist. „Knechtsgestalt“ ist die geschichtliche Realisierung der menschlichen Natur im Stand der Erniedrigung der göttlichen Natur. Kommt diese geschichtliche Realisierung zum Abschluss, so ist die menschliche Natur nicht abgeschlossen. Abgeschlossen ist nur die Knechtsgestalt, aber auch sie ist als die geschehene bleibend wirklich. Zur menschlichen Natur dagegen gehört nicht nur das, was mit ihr geschehen ist, sondern was mit dem noch geschieht und geschehen wird, was geschehen ist. Sie ist also der Zukunfts- und Gegenwartsaspekt des Geschehenen. Deshalb hat die menschliche Natur über den Tod Christi hinaus Bestand. Und deshalb wirkt sie mit göttlichen Eigenschaften, die ihr übergeeignet sind.
Als Effekt der menschlichen Natur muss die Knechtsgestalt aber ontologisch etwas Eigenständiges sein. Denn sonst wäre das Trennungsstück zwischen den beiden Naturen innerhalb der menschlichen Natur zu finden, und der Widerspruch würde wiederkehren, dass die menschliche Natur Eigenschaften unterdrücken könnte, die ihr übergeeignet werden. Aber geschichtlich zu sein, kann auch als eine Eigenschaft der göttlichen Natur betrachtet werden. Deshalb ist die Knechtsgestalt ein Effekt beider Naturen und ihres gemeinsamen irdisch-geschichtlichen Vollzugs. Kommt dieser Vollzug zum geschichtlichen Abschluss, so bricht sie ab, und die Übereignung göttlicher Eigenschaften auf die menschliche Natur gelingt widerstandslos.
Die Unterscheidung von zeitweiser Knechtsgestalt und dauerhafter menschlicher Natur löst auch das Problem, das innerhalb des Luthertums aufgetreten ist unter dem Stichwort Krypsis oder Kenosis. Zwischen den Gießener und den Tübinger theologischen Lehrstühlen wurde im 17. Jahrhundert eine Debatte geführt, ob Christus im Stand der Erniedrigung (griechisch: Kenosis) seine göttlichen Eigenschaften nur verborgen hatte, sie aber im Verborgenen doch in Gebrauch genommen hatte (Krypsis), oder ob er sie wirklich abgelegt hatte, während er sie zugleich besaß. Hätte die göttliche Natur ihre Eigenschaften der menschlichen Natur in Knechtsgestalt übereignet, so wären die Widersprüche unvermeidlich, die innerhalb der menschlichen Natur auftreten würden. Die Krypsis löst also das Problem nicht, das mit dem genaus maiestaticum in die Christologie eingeht. Die Knechtsgestalt verhindert dagegen real, dass die göttliche Natur ihre Eigenschaften in der menschlichen Natur entfaltet, obwohl sie sie ihr schon übereignet hat. In der Knechtsgestalt wird der Effekt dieser Übereignung geschichtlich blockiert.
Kommentar und Weiterführung
Das genus maiestaticum ist ein Modell, das aus Luthers Ubiquitätsgedanken hervorgegangen ist. Die Ubiquität wiederum war Luthers Modell, um die Personeneinheit der beiden Naturen in Christus möglichst konsequent durchhalten zu können. Wenn Christus im Abendmahl gegenwärtig ist und wenn er in Personalunion beider Naturen besteht, dann ist er auch in seiner menschlichen Natur im Abendmahl gegenwärtig. Ansonsten würde man seine persönliche Gegenwart von den Naturen ablösen oder die zwei Naturen auf eine reduzieren. Deshalb bedarf es in der Tat eines Modells, das diese Anforderung erfüllt. Nur wenn man keine Realpräsenz Christi im Abendmahl behauptet, entfällt eine entsprechende Anforderung.
Ist aber die Realpräsenz auf das genus maiestaticum festgelegt? Zunächst erfordert die Realpräsenz beim Abendmahl nicht, dass Christus an allen Orten sein kann. Die Ubiquität kann zwar die Realpräsenz erklären, ist aber selbst begründungsbedürftig. Das genus maiestaticum versucht, diese Begründung zu geben. Wird damit aber nicht zu viel verlangt, wenn es doch zunächst nur darum geht, dass Christus beim Abendmahl präsent ist? Könnte also die Realpräsenz Christi auch ohne genus maiestaticum begründet werden?
Darauf kann eine ökumenische Antwort gegeben werden, die die Anliegen sowohl der Lutheraner als auch der Reformierten zugleich berücksichtigt. Man könnte die Prämisse fallen lassen, dass der Ausdruck „Christi Leib“ ausschließlich eine menschliche Eigenschaft beschreibt. Interessanterweise sind sich Reformierte und Lutheraner darin einig, dass sie für Gott keine Leiblichkeit zugrunde legen. Für sie bedeutet „Leib“ ausschließlich eine Eigenschaft der menschlichen Natur. Nun kann man aber unter „Leib“ das Vollzugsorgan eines Subjekts verstehen. Dieses Vollzugsorgan ist sowohl in sich als auch außer sich: Es verbindet sich mit Anderem durch seinen Vollzug. Dann hat auch Gott einen Leib. Ingolf Dalferth hat dieses Vollzugsorgan Gottes, durch das er mit anderem in Beziehung tritt[40], mit dem Heiligen Geist identifiziert.[41] Folglich wäre Gottes Leib im Wirken des Heiligen Geistes präsent. Damit lässt sich ein wesentliches Anliegen der reformierten Christologie einbringen. Nach Zwingli ereignet sich die Gnade allein im Heiligen Geist, der selbst kein Vehikel brauche, um seine Kraft wirken zu lassen.[42] Wir werden im nächsten Kapitel sehen, dass auch Calvin eine pneumatologische Lösung an die Stelle des genus maiestaticum setzt. Einigkeit hätte darüber erzielt werden können, dass der Geist das Vollzugsorgan Gottes ist, wenn es etwa heißt, dass der Geist vom Vater und vom Sohn „ausgeht“ und dem Fleisch in Christus „mitgeteilt“ wird (1041f.). Wenn Christus in den Einsetzungsworten des Abendmahls sagt: „Das ist mein Leib“, so spricht er vom göttlichen Leib, also vom Heiligen Geist. Es ist dann der Geist, der im Abendmahl ausgeteilt wird. Das hätte nicht nur ein interkonfessioneller Kompromiss zwischen Lutheranern und Reformierten sein können, der