Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens. Heide Fritsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heide Fritsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524858
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bekommen.

      Das empörte meine Stiefschwestern. Rentenversicherungsbeiträge für die Arbeit, die er auf dem Hof geleistet hatte? So etwas gab es nicht in ihrem Bewusstseinsradius. Das war eine Beleidigung gegen ihr erbliches Besitzerrecht. Das war Raub an ihrem Eigentum.

       IX.

      Ende der achtziger Jahre und Anfang der neunziger Jahre hatte mein Vater mehrere Schlaganfälle. Ich war in Bremen, um ihn zu pflegen. In der letzten Zeit vor seinem Tod hatte mein Vater nur einen Wunsch: Er wollte alle seine Häuser und alle Plätze, wo er gewohnt hatte, noch einmal wieder sehen. Ich versuchte, ihm diese Wünsche zu erfüllen. Das war nicht immer möglich.

      Ich war im Sommer 1992 in Bremen. In mehreren Wochen rollte in dieser Zeit ein Gewitter nach dem anderen zwischen der Weser und Elbe hin und her. Die Luft war drückend schwül. Sie entlud sich jeden Tag in Donner und Blitzen. Mein Vater war krank und schwach. Dieses Wetter machte ihn ganz fertig. Ich konnte ihn nicht jeden Tag auf allen möglichen Autobahnen mit mir herum schleppen. Mein Vater bettelte wie ein Kind. Am 11. Juni 1992 saß er morgens um acht Uhr fertig angezogen in seinem Krankenzimmer. Er hatte noch nicht gegessen. Sein Frühstückbrot hatte er sich einpacken lassen, das wollte er unterwegs essen.

      „Heidi, wenn du mich jetzt nicht nach Martfeld fährst, werde ich dir das nie verzeihen.“

      Von Bremen nach Martfeld sind es ungefähr dreißig Kilometer. Wenn ich ruhig fuhr, hätte er das schaffen können, glaubte ich. Es kam anders. Auf der Autobahn von Bremen nach Verden an der Aller bekam er keine Luft mehr. Ich machte das Fenster auf. Mein Vater bekam Durchzug. Ich musste das Fenster wieder zumachen. Ich hielt das Auto auf der Autobahn an und wollte ihn hinlegen. Da bekam er erst recht keine Luft mehr. Ich wollte sofort zum Krankenhaus nach Bremen zurückfahren. Mein Vater bettelte darum weiterzufahren:

      „In ein paar Minuten sind wir in Martfeld.“

      Auf dem Hof in Martfeld blieb er auf der Diele tot liegen. Im Krankenwagen wurde er mit Elektroschock noch einmal zurück ins Leben geholt und ins Krankenhaus nach Hoya gefahren.

      Das erste Mal starb er also auf dem Hof, auf dem er mit seiner zweiten Frau dreizehn Jahre lang gelebt hatte. Die Kinder seiner zweiten Frau hatte er als seine Kinder geliebt und behandelt. Das zweite Mal starb er im gleichen Krankenhaus in Hoya, in dem auch seine zweite Frau gestorben war. Die Kinder seiner zweiten Frau sind nicht zu seiner Beerdigung nach Bremen gekommen. Hier enden meine Kindheitserinnerungen an den Hof in Martfeld.

      Ehret die Toten! Das ist das, was die Menschen den Tieren voraushaben. Wenn sie das nicht einmal können, fallen sie noch unter das Tierische.

       Ingeborg

       Ingeborg

       I.

      Als mein Vater den Hof in Martfeld verlassen musste, bekam er eine Anstellung bei der Regierung von Niedersachsen. Damals sollten die Flüchtlinge, die aus der ehemaligen DDR kamen, in der Lüneburger Heide angesiedelt werden. Öde Gebiete der Lüneburger Heide sollten urbar gemacht werden. Hier konnten sich die aus der DDR geflüchteten Bauern ein neues Leben aufbauen.

      Mein Vater stand ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Finanzamt, Steuern, Abrechnungen, Buchführung, Banken, Darlehen, staatliche Unterstützungen, Einkauf technischer Hilfsmittel, Urbanisierung, Anbau von landwirtschaftlichen Produkten, Absatzmärkte, alles das waren seine Fachbereiche. Er war mit Herz und Seele Bauer. Er hatte eine landwirtschaftliche Fachschule besucht. Er hatte eine jahrzehntelange Berufserfahrung und ein glühendes Engagement.

      Als mein Vater den Hof in Martfeld verlassen musste, wohnte er zuerst in einem möblierten Zimmer. Das war zu primitiv für einen alleinstehenden Mann über Fünfzig. Er zog in ein Hotel um. Hier bezahlte er für eine Vollpension.

      Er aß jeden Tag in der Gaststube. Das Essen war gut und reichlich. Seine Bekannten und Freunde traf er in der Gaststube. Seine schriftlichen Arbeiten erledigte er in der Gaststube. Seine geschäftlichen Besprechungen hatte er in der Gaststube. Dabei wurde gegessen und getrunken, gedankenlos, aus reiner Gewohnheit oder als gesellschaftliche Verpflichtung und Höflichkeit. Mein Vater wurde dick und dicker. Er kränkelte. Mal hatte er dies, mal hatte er jenes. Er sah aufgeblasen, blass und ungesund aus.

      Sein Leben lang hatte er auf dem Hof körperlich schwer gearbeitet. Jetzt hatte er nur noch Papierarbeit. Sport als Freizeitbeschäftigung hatte er nie gekannt. Mit so etwas beschäftigte sich früher kein Bauer. Mein Vater musste lernen umzudenken, er musste seinen neuen Lebensstil intellektuell aufarbeiten. Im Hotel und in der Gaststube hatte er kein langes Leben vor sich. Welche Alternative hatte er? Er hatte in seinem ganzen Leben niemals einen eigenen Haushalt geführt. Er hatte niemals sein eigenes Essen gekocht. Das war für ihn Frauenarbeit. Also musste er heiraten. Nur so konnte er sich ein neues Zuhause aufbauen.

      In all den Jahren, wo ich von meiner Mutter weggelaufen und zu meinem Vater gefahren bin, hatte ich ein gutes Verhältnis zu meinem Vater bekommen. Als mein Vater wieder heiraten wollte, bat er mich um Rat und Hilfe.

      Über eine Heiratsvermittlung wurde ihm der Kontakt mit Frauen vermittelt. Auf dem ersten Treffen mit diesen Frauen hat er mich mitgenommen. Ich sollte meine Meinung äußern.

      Alle Frauen, die ich kennen lernte, waren reizend. Ich habe mich großartig mit ihnen verstanden. Von einigen wurde ich wie eine Tochter behandelt.

      Meine Lobreden über diese Frauen haben meinen Vater nicht beeinflussen können. Mein Vater hatte seine eigenen Vorstellungen und Wünsche.

      Bei der einen Frau wohnten die ehemaligen Schwiegereltern im Haus nebenan. Das war zu nahe, das konnte nicht gut gehen.

      Eine Frau war Rechtsanwältin. Mein Vater hatte Angst, sie könnte schlauer sein als er, sie könnte ihn übers Ohr hauen.

      Eine Frau hatte zwei Söhne. Mein Vater war so hässlich von den Kindern seiner zweiten Frau behandelt worden, dass er keine Frau mit Kindern haben wollte.

      Andere Frauen waren zu fromm oder spleenig oder kindisch oder sonst was.

      Dann hörte ich lange Zeit nichts von ihm, bis der Bescheid kam, er wäre wieder verheiratet. Nach der Hochzeit wurde ich nach Bremen eingeladen. Ich wurde nicht um meine Meinung gefragt. Ich bekam keine Erklärung.

      Die Frau war vierundfünfzig Jahre alt. Sie war nie verheiratet gewesen und hatte keine Kinder. Sie arbeitete bei Siemens in Bremen. Sie war frigide, besser gesagt, eiskalt und kurz angebunden. Ich wurde schnell wieder rausgeschmissen. Ich sollte alleine einen Bus finden und zum Bahnhof fahren.

      Mein Vater war verändert. Früher war er mir gegenüber offen und führsorglich. Jetzt existierte ich nicht mehr. Das schmerzte. Mein Vater war der letzte Halt, den ich in meinem Leben hatte.

      Warum er diese Frau geheiratet hat, habe ich erst viel später begreifen können.

       II.

      Die dritte Frau meines Vaters hieß Ingeborg. Zuerst erfuhr ich, dass Ingeborg aus einer alten Bremer Familie kam. Ihr Großvater war Kapellmeister in Bremen gewesen. Mein Vater hatte hier Eingang in die feine Bremer Gesellschaft gefunden. Das war das Arkadien meines Vaters.

      Der Vater von Ingeborg hatte einstmals eine Fabrik für Schiffstaue in Wilhelmshaven besessen. 1918 starb er an der Spanischen Grippe. Er fiel auf seiner Arbeitsstelle tot um.

      Seine Verwandten nahmen ihm alle Schlüssel ab. Sie nahmen alles Bargeld an sich. Sie lehrten alle Konten. Sie schafften alle Wertpapiere zur Seite. Danach wurde die Fabrik Konkurs erklärt. Alles feste Eigentum wurde zur Konkursmasse hinzugerechnet. Mit dem Geld, das die lieben Verwandten zur Seite geschafft hatten, kauften sie die Konkursmasse zu einem Schleuderpreis auf.

      Olga,