Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens. Heide Fritsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heide Fritsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524858
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ihre eigene Seele war ihr durch Hochmut und Dummheit versperrt. Das konnte sie nicht begreifen.

      Dennoch hatten ihre Boshaftigkeiten weit reichende Konsequenzen für mein Leben.

       IV.

      Als Ingeborg vier Jahr alt war, bekam ihre Mutter ihren ersten Sohn. Natürlich war dieser Sohn der Erbe der väterlichen Firma und genauso natürlich stand er als Erbe des Vermögens im Mittelpunkt der Familie. Alles drehte sich um diesen Sohn. Hier begann der erste Kampf von Ingeborg. Dieser Rivale musste ausgeschaltet werden. Sie hat ihr Leben lang kein schwesterliches Verhältnis zu ihrem Bruder gehabt.

      Ihr zweiter Kampf begann, als ihre Mutter in die psychiatrische Pflege kam. Die Kinder kamen jetzt zu ihren Großeltern nach Bremen. Bei den Großeltern lebte aber auch noch das jüngste Kind, die Schwester von Ingeborgs Mutter. Das war Tante Clara. Tante Clara war nur ein paar Jahr älter als Ingeborg. Sie wurde jetzt Ingeborgs ärgste Konkurrentin um die Gunst und Aufmerksamkeit ihrer Großeltern. Durch diesen jahrelangen eifersüchtigen Kampf, entwickelte sich zwischen Tante Clara und Ingeborg ein tief greifender Hass. Dieser Hass wahrte bis zum Tod von Tante Clara.

      Ingeborg war die nächste Angehörige von Tante Clara, aber sie hatte keinen gesetzlichen Anspruch auf eine Erbschaft. Tante Clara macht mit ihrem Vermögen, was sie wollte. Haupterbin waren laut Testament von Clara Schultz meine Schwester, ich und noch eine mir unbekannte Frau.

      Ingeborg hat das nicht erschüttern können. Nach Tante Claras Tod unterschrieb sie alle Gerichtspapiere mit dem Namen meiner Schwester, mit dem Namen dieser unbekannten Dame und mit meinem Namen. In diesen Gerichtsakten ist schriftlich beglaubigt, dass wir unseren Erbschaftsanteil ordnungsgemäß erhalten hätten. Ingeborg fälschte drei verschiedene Unterschriften und das wurde vom Amtsgericht in Bremen anerkannt und notariell beglaubigt. Ein offizieller Bescheid hierüber wurde uns nicht einmal zugestellt. Es gibt Dinge, die gibt es gar nicht.

      Als meine Schwester und ich nach dem Tode von Ingeborg ihre Wohnung aufgeräumt und ausgeräumt haben, fand meine Schwester diese Amtspapiere. Meine Schwester hatte mich in drei Erbschaftsauseinandersetzungen betrogen und bestohlen und glaubte, sie wäre auf diesem Gebiet ein nicht zu übertreffender Experte. Jetzt fand sie die gesetzlich beglaubigten Papiere darüber, dass es hier jemand noch besser konnte als sie. Ihre Empörung war laut, anhaltend und unversöhnlich. Sie stänkerte und schrie. Von diesem Schock konnte sie sich nicht mehr erholen. Die Erbschaftsnachfolge nach Ingeborg war für sie verpestet. Anneliese war stinksauer. Sie sprach nicht mehr mit mir.

      Wie meisterhaft intrigant dieses Spiel von Ingeborg inszeniert war, hat meine Schwester bis heute noch nicht begriffen. Ingeborg war enterbt worden. Als Gegenzug hat sie dann alle betrogen, den Staat, das Amtsgericht und ihre eigene Familie. Sie hat alle Unterschriften gefälscht. Damit aber keiner auf die dumme Idee kam, diese Unterschriften zu überprüfen, hat sie alle gegeneinander aufgehetzt. Wir sollten uns gegenseitig mit Boshaftigkeiten das Leben zur Hölle machen. Das war Ingeborgs Sicherheit. Jeder beargwöhnte misstrauisch jeden. Solange Ingeborg lebte, würden wir niemals auf die Idee kommen, uns zusammen zu raufen, die Akten zu untersuchen und eine Anzeige gegen sie erstatten.

      Dieses Intrigenspiel war genial eingefädelt. Die Möbel, die meine Schwester und ich von Tante Clara geerbt hatten, verkaufte sie an Theodor. Danach behielt sie zwei Stühle selbst, gab einen Sessel an meine Schwester und einen an Theodor. Das erzählte sie telefonisch dem einem und dem anderen:

      „Hast du das mitbekommen? Heidi bekommt dies. Theodor hat das mitgenommen. Was bekommst du? Und das lässt du dir gefallen?“

      Theodor hatte gezahlt und dann hatte er nichts als Boshaftigkeiten in den Händen. Wenn es an seinen Geldbeutel geht, verliert Theodor die Beherrschung. Er fuhr nach Bochum. Im Hause meiner Mutter wurde er nicht mehr empfanden. Theodor schlief tagelang im Auto vor ihrem Haus. Darüber wurde in der Nachbarschaft geklatscht. Die Gerüche kamen bis zur Schule, wo meine Mutter arbeitete. Das wurde peinlich für meine Mutter.

      Meine Schwester verlor die Nerven und brachte den Sessel zum Hauptbahnhof in die Gepäckaufbewahrung. Theodor musste nochmals bezahlen, um ihn hier wieder heraus zu holen.

      Alle waren sauer. Jeder stänkerte gegen jeden. Jeder intrigierte gegen jeden. Jeder war erbost über jeden. Mein Vater sprach nicht mehr mit mir.

      Ingeborg stand abseits und lachte sich ins Fäustchen. Sie hat fünffach abgesahnt. Sie hatte das ganze Vermögen einkassiert. Sie hatte alle gegen alle aufgehetzt. Sie hatte die, die geerbt hatten, noch mal zur Kasse gebeten. Weil sie offiziell nichts geerbt hatte, brauchte sie auch keine Steuern zu zahlen. Auch den Fiskus hatte sie damit übers Ohr gehauen. Und zu alledem hatte sie ein enormes Gaudi. Sie hatte Rache genommen und sie hatte ihre verkrüppelte Seele zufrieden gestellt. Was will der Mensch mehr? Sie wollte noch mehr: „Heidi, kannst du mir noch einmal verzeihen?

      Was sollte ich ihr verzeihen? Da hätte sie klare Tatsachen auf den Tisch legen sollen, zu denen ich hätte Stellung nehmen können. Für eine allgemeine Absolution war ich nicht zuständig. Die Frage war an die verkehrte Person gerichtet worden.

       V.

      Als Ingeborg meinen Vater heiratete, bekam mein Vater keine Frau, sondern eine Tochter. Ingeborg nannte meinen Vater „Papi“. Im Beisein von anderen wurde dies umschrieben: „Mein Papi hat immer alles für mich getan. Dein Vater hat auch immer gut für mich gesorgt.“.

      Das war eine ihrer gängigen Bemerkungen, ihr Papi und mein Vater wurden in einem Atemzug genannt, die Begriffe verwechselten sich, die Personen wurden austauschbar, der eine wurde der andere, der eine war der andere, er übernahm die Rolle, Aufgabe und Verantwortung des anderen. Diese Projektion des Vaters auf den Ehemann war ein vollkommener Austausch von Rollen und Identitäten.

      Mein Vater nannte Ingeborg „Irmchen“. Irmgard war seine jüngste Schwester. Irmgard hatte ihre Eltern bis zu ihrem Tod betreut. Sie war die treue Seele und der Putzlappen der Familie. Ingeborg war nun für ihn seine treue Seele, glaubte er. Aber einen Putzlappen anzufassen, empfand Ingeborg als Beleidigung. Wunschprojektionen auf allen Seiten, die ins Leere verpufften.

      In diesen fiktiven Vorstellungswelten war ich ein Störfaktor. Ingeborg übernahm die Rolle der Tochter. Damit war ich entweder nicht existent oder ihre größte Konkurrentin oder beides. Damit wiederholte sich für sie die gleiche Konstellation wie in ihrer Kindheit und Jugend, als sie in Konkurrenz mit Tante Clara um die Gunst ihrer Großeltern kämpfte.

      Die Expertise und Erfahrung, die Ingeborg in den Eifersüchteleien mit ihrer Tante Clara entwickelt hatte, waren ihre besten Werkzeuge. Da spielte es keine Rolle, dass sie über dreißig Jahr älter war als ich: Der liebe Papi sollte und musste jetzt für sie sorgen. Ich hatte nichts mehr in seinem Haus zu suchen.

      Auch wenn ich nach Bremen fuhr, um meinen Vater ins Krankenhaus zu bringen oder zu pflegen, musste ich im Hotel wohnen. Da wo Ingeborg war, war kein Platz für mich.

       VI.

      Das war die Situation, die ich antraf, als ich von Kiel abfuhr und in Tostedt ankam. Ich könnte nicht ins Haus kommen, das wäre unmöglich, sie habe keinen Platz. Außerdem müsse sie zu viel arbeiten. Das könnte sie gesundheitlich nicht verkraften.

      Olga gebrauchte hierfür den norddeutschen Ausdruck: „Ingeborg kann nicht viel ab.“ Ingeborg ist gesund und munter vierundneunzig Jahre alt geworden.

      Als sie sich mit vierundneunzig Jahren im Spiegel erblickte, sagte sie: „Ach ne, jetzt will ich nicht mehr.“ Dann hat sie sich ins Bett gelegt, nichts mehr gegessen und getrunken und ist gestorben.

       VII.

      Als ich aus Kiel in Tostedt ankam und nicht bei meinem Vater bleiben konnte, musste ich direkt nach Berlin fahren. Mein Vater erklärte, er müsse auch eine Geschäftsreise nach Berlin machen, da könnte ich im Auto mitkommen.

      Mein