„Das machen wir ganz bestimmt. Aber jetzt müssen wir wieder hinauf. Die anderen machen sich bestimmt schon Sorgen um uns. Und außerdem verpassen wir das Nachtessen.“
Lilly nickte und stieg aus. Sie hüpfte um den Bus herum und legte ihre kleine Hand in Großvaters große, runzlige. Zusammen gingen sie zur Wohnung zurück. Auf der Treppe ging Lilly ganz langsam, damit Großvater mit ihr Schritt halten konnte.
„…hat sich einen alten, klapprigen VW-Bus gekauft. Weiß der Himmel, wofür er ihn braucht, aber ich konnte ihn nicht umstimmen“, hörten sie Großmutter aus dem Wohnzimmer schimpfen, als sie in die Wohnung kamen. Fragend sah Lilly ihren Großvater an, doch der lächelte nur, legte seinen Finger auf die Lippen und zwinkerte ihr zu. Lilly nickte.
Aufbruch
„Wir holen sie nächste Woche wieder ab“, erklärte die Mutter. Lilly war wieder bei ihren Großeltern. Ihre Familie würde in die Ferien fahren und sie würde hier bleiben. Das war immer so und Lilly war es ganz recht.
„Sie hat so viele Bücher mitgenommen, dass kaum noch Platz für was anderes in der Tasche war. Aber ich denke, die Kleider werden für eine Woche reichen. Sonst habt ihr ja unseren Hausschlüssel.“
Mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedete sich die Mutter von Lilly. Großvater nahm ihr die schwere Tasche ab und stellte sie ins Gästezimmer.
„Pack schon mal aus. Bald gibt’s Mittagessen“, rief die Großmutter aus der Küche. Fragend sah Lilly Großvater an. Der lächelte sein geheimnisvolles Lächeln und schüttelte sacht den Kopf. Lilly nickte und ging ins Gästezimmer, um sich ein Buch aus ihrer Tasche zu holen.
„Immerzu lesen“, meckerte die Großmutter, als sie alle um den Tisch herum saßen. Es gab Pasta mit Tomatensauce.
„Das kann einfach nicht gut tun. Da kann ja nichts Gutes bei rauskommen.“ Lilly legte ihr Buch vorsichtig neben sich auf die Eckbank. Sie verstand nicht, was an Büchern so schlimm sein sollte. Verstohlen blickte sie zu Großvater hinüber, der ihr zuzwinkerte. Ohne etwas zu sagen wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Pasta zu.
Nach dem Essen verzog sich Lilly ins Gästezimmer, um zu lesen. Sie hatte sich ein paar Kekse mitgebracht und ein Glas Milch, um sie hinunter zu spülen.
Da klopfte es auf einmal leise an der Tür. Lilly stand auf und ging hin, um zu sehen wer es war. Es war Großvater.
„Es ist soweit, Kleine. Du hast doch noch nicht ausgepackt, oder?“ Lilly schüttelte den Kopf und bedeutete ihrem Großvater, sich zu ihr hinunter zu beugen. „Wo ist Großmutter?“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Einkaufen gegangen“, flüsterte Großvater zurück. Lilly nickte zufrieden und wandte sich um. Sie brachte das leere Glas in die Küche zurück und steckte ihr Buch in die Tasche. Großvater griff sie sich und trug sie in den Flur hinaus.
„Ich habe noch etwas für dich. Es wartet unten im Bus auf dich.“ Lilly nickte und Großvater half ihr, sich die Schuhe und die Jacke anzuziehen. Dann setzte er ihr ihre Kappe auf den Kopf und gab ihr die Hand. Mit der anderen machte er die Tür auf, packte ihre Tasche und die beiden machten sich still und leise auf den Weg.
In der Tiefgarage war es noch immer düster, doch Lilly kam es vor, als leuchtete der Bus schon von weitem. Neugierig lugte sie durch eines der hinteren Fenster hinein, während Großvater die Tür aufschloss.
Der Kofferraum war vollgepackt mit Taschen. „Wofür ist denn diese rote Tasche da?“, wollte sie neugierig wissen. Großvater drehte sich zu ihr um und lächelte sein geheimnisvolles Lächeln. „Das wirst du schon sehen, wenn wir unterwegs sind.“ Damit öffnete er die Tür zum Beifahrersitz und half Lilly einzusteigen. Schnell schnallte sie sich an. Im Bus war es warm. Sie zog die Jacke und die Mütze aus und warf sie nach hinten.
„Brauchst du noch etwas aus deiner Tasche?“, wollte Großvater wissen. Lilly nickte und kramte das Buch hervor, in dem sie zuvor gelesen hatte. Sie konnte hören, wie Großvater die Tür zum Kofferraum öffnete und ihre Tasche verstaute. Dann kam er noch einmal zurück. Er hielt etwas hinter dem Rücken versteckt. Mit geheimnisvoller Miene zog er die Hand nach vorne und hielt ihr ein Plüschtier hin. Es war ein kleiner Löwe, in den man mit der Hand hinein schlüpfen und ihn bewegen konnte. „Das ist Leo. Er wird uns begleiten.“ Vorsichtig nahm Lilly den Löwen in die Hand und setzte ihn sich auf den Schoss.
Großvater machte die Tür zu, ging um den Bus herum und setzte sich schließlich auf den Fahrersitz.
Erwartungsvoll sah Lilly ihn an. Er lächelte. „Es kann losgehen.“ Und er startete den knatternden Motor.
Reise nach B
Es waren nicht viele andere Autos unterwegs. Lilly machte sich einen Spaß daraus, Autos gleicher Farbe zu zählen. Großvater hatte das Radio angeschaltet und Lilly wippte abwesend mit dem Fuß den Takt mit.
Nach einer Weile wurde ihr das Spiel zu langweilig und sie griff nach ihrem Buch. „Emil und die Detektive“, von Erich Kästner.
Nach einer Stunde taten ihr vom Lesen die Augen weh. Sie machte eine Pause und betrachtete Großvater.
Er saß ganz entspannt am Steuer des alten Busses und schien es zu genießen, wenn draußen ein Kind ganz aufgeregt auf den farbigen Bus deutete. Dann huschte jedes Mal ein leichtes Lächeln über sein faltiges Gesicht. Lilly mochte seine Falten. Sie erzählten ihr von all den Jahren, die Großvater schon gelebt hatte und von den vielen Dingen, die er erlebt hatte. Früher hatte sie stundenlang auf seinem Schoss sitzen können, versunken in eine eingehende Betrachtung seines faltigen Gesichtes. Sie hatte sich ausgemalt, was für ein Abenteuer hinter jeder dieser Falten versteckt war. Jedes Mal, wenn sie sich bei einer Falte nicht ganz sicher gewesen war, hatte sie Großvater gefragt und dieser hatte ihr eine seiner tollen Geschichten erzählt. Geschichten von Piraten und Räuber und von exotischen Orten, geheimnisvollen Schätzen, dunklen Höhlen und von der Farbe des Meeres.
Dieses Mal jedoch, nahm sie sich vor, den ganzen Großvater zu betrachten. Er trug ein langärmliges, rot kariertes Hemd und eine Hose mit Bügelfalten. Die schlanken Hände, die das Lenkrad umfasst hielten, waren ebenfalls voller Falten.
„Großvater, erzählen deine Hände auch Geschichten?“, wollte sie neugierig wissen. Großvater nickte lebhaft.
„Aber natürlich tun sie das. Diese hier“, er zeigte ihr eine tiefe Falte auf seinem Handrücken, „habe ich bei einem Überfall bekommen. Ich habe dir doch erzählt, dass Großmutter und ich einmal in Amerika gewesen sind. Wir fuhren damals mit einem Dampfer auf dem Mississippi, als wir plötzlich überfallen wurden. Sie kamen in einem Motorboot und stellten sich uns in den Weg. Der Kapitän unseres Dampfers musste anhalten und dann sind die Männer auf den Dampfer geklettert. Sie wollten von allen Geld und Wertsachen, doch Großmutter und ich hatten keine dabei. Das wollte einer von ihnen nicht glauben und hat versucht, mir meine Jacke abzunehmen, um selbst nachzusehen. Aber ich habe ihn gepackt und in den Fluss geworfen. Als die anderen Männer das sahen, bekamen sie Angst und flohen. Dabei ließen sie auch all die Wertsachen zurück, die sie eigentlich hatten stehlen wollen. Zum Dank hat mir dann eine der bestohlenen Damen die goldene Kette geschenkt, mit der du immer so gern gespielt hast.“
„War das deine erste Falte?“, wollte Lilly von Großvater wissen.
„Nein, das war nicht die erste. Aber das werde ich dir ein andermal erzählen.“ Lilly gab sich mit dieser Antwort zufrieden und wandte sich wieder ihrem Buch zu.
Auch Großvater warf immer wieder einen Blick zu seiner Enkelin. Dass sie kaum sprach störte ihn nicht weiter. Er war der Meinung, dass sie selbst entscheiden sollte, wann sie etwas sagen wollte. Sie trug einen ihrer wollenen Pullover, die ihre Großmutter für sie gestrickt hatte und eine Jeans. Lange braune Haare umspielten ihr schmales Gesicht. Bald würde sie dreizehn Jahre alt werden. Und noch immer hatte sie keine Anzeichen einer Besserung gezeigt. Sie war ungewöhnlich ernst für ihr