Ehrenfried & Cohn. Uwe Westphal. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uwe Westphal
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737574853
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Aber Ehrenfried wollte das nicht. „Es mag sein“, hatte er entgegnet, „dass Hitler den Staat lenkt. Aber meinen Wagen lenke ich immer noch selbst. Dafür brauche ich niemand anderen.“

      Als Landauer in die Limousine einstig, bemerkte er einen missbilligenden Seitenblick Ehrenfrieds. Denn dem war der alte und abgetragene Wintermantel seines Zwischenmeisters aufgefallen. „Wohl vom Vater geerbt“, dachte Ehrenfried. „Furchtbar.“ Noch unangenehmer als diese verschmutzte Kleidung war für Ehrenfried der Anblick, als sich Landauer beim Verlassen der Zwischenmeisterei eine Kippa aufsetzte. Dann zündete er sich eine Zigarette an. Ehrenfried beschloss sofort, keinesfalls über den Hausvogteiplatz zu fahren. Nicht auszudenken, wenn ihn dort jemand aus der Konfektion sehen würde. Er, Ehrenfried, der Chef, chauffiert einen Kippatragenden Mann in einem abgewetzten Mantel. Die Fragen, ja die Missbilligungen, hätten vermutlich kein Ende genommen.

      Im Wagen war es kalt. Die Heizung brauchte eine Weile, bis sie Wärme verströmte. Trotz der winterlichen Eiseskälte und des nun einsetzenden Schneefalls kurbelte Ehrenfried das Fahrerfenster hinunter. Lieber wollte er frieren, als den penetranten Zigarettengeruch ertragen zu müssen, den Landauers Kleidung ausdünstete. Ehrenfried beschloss, freundlich zu bleiben, aber das gelang ihm nicht ganz. Er ärgerte sich darüber, dass ein halber Arbeitstag nun so einfach verloren sein würde.

      „Hat Ihre Frau denn noch nichts gemerkt, als Sie heute Morgen zur Arbeit gegangen sind?“, fragte er in fast vorwurfsvollem Ton.

      „Eigentlich nicht“, antwortete Landauer. Jetzt verfiel er vor lauter Aufregung über die bevorstehende Geburt seines dritten Kindes doch ins Jiddische. Dieses osteuropäisch-jiddische Deutsch überwältigte Ehrenfried; einerseits dachte er an seinen Vater, und das wärmte ihm das Herz, andererseits drehte er seiner Herkunft lieber den Rücken zu und fühlte sich erst einmal als Deutscher und dann erst als Jude.

      „Jetzt ist sie ein bisschen früher dran als geplant. Ich bin so aufgeregt! Aber bei den ersten beiden Kindern lief ja auch alles glatt. Außerdem ist Irinas Mutter seit ein paar Monaten bei uns. Die sorgt sich um alles. Die hat schon vielen Gören ins Leben geholfen. Und jetzt werden wir ja dann bald Chanukka mit unserer neuen Rebecca feiern.“ „Wieso Rebecca, woher wissen Sie denn, dass es ein Mädchen wird?“, entgegnete Ehrenfried erstaunt. „Weil die anderen Gören auch Mädchen sind“, erwiderte Landauer etwas rätselhaft und zündete sich schon wieder eine Zigarette an. Ehrenfried ließ das Fahrerfenster geöffnet.

      Die Fahrt zur Schönhauser Allee führte über breite Kopfsteinpflasterstraßen in den Nordosten Berlins. Sie waren nur zum Teil vom Schnee geräumt. Immer wieder spritzte während der Fahrt Schneematsch auf. Ehrenfried begann, um seinen Mercedes Benz mit den schicken Weißwandreifen zu fürchten. Außerdem ärgerte er sich, dass Landauer seine Hilfsbereitschaft gar nicht wirklich zu würdigen wusste, sondern ihn über die Schönhauser Allee dirigierte, als befände sich Ehrenfried hier auf völlig unbekanntem Berliner Territorium. Je näher sie der Hausnummer 188 kamen, desto deutlicher hatte Ehrenfried das Gefühl, sich immer mehr von Landauer und seiner großherzigen Hilfe zu entfernen. Hier reihte sich jetzt Wohnblock an Wohnblock: graue, schrecklich aussehende Häuser. Als Ehrenfried den kleinen Turm auf dem Dach des S-Bahnhofs Schönhauser Allee erkannte, waren sie nur noch drei Minuten von Landauers Wohnung entfernt. Ehrenfried versuchte, unmittelbar vor dem Haus mit der Nummer 188 zu parken. Doch weil auf den Bürgersteigen Schnee aufgehäuft war, fuhr er in eine Toreinfahrt und stoppte dort. Landauer öffnete eilig die Wagentür, wollte offenbar sofort zu seiner Wohnung laufen, besann sich dann und wartete, bis Ehrenfried das Fahrerfenster hochgekurbelt hatte, ausgestiegen war und die Türen abschloss. Der nahm jetzt die schwere und drückende Luft der Kohleheizungen wahr. Er folgte Landauer durch den Hofeingang und dann noch durch zwei weitere Höfe, bis der eine Tür im vierten Hinterhof, nämlich die Tür zum Gartenhaus, aufschloss.

      „Mit etwas Chuzpe haben wir hier die Wohnung gekriegt. Jetzt zeige ich Ihnen mal meine Mischpoke!“, hechelte er hustend, lief voller Freude die Treppe hinauf und nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal. Ehrenfried fühlte sich wie an einem ganz falschen Ort, als hätte er sich verlaufen, und er achtete darauf, mit seinem neuen englischen hellbraunen Tweedmantel nicht das verschmutzte Treppengeländer zu streifen. Im vierten Stockwerk klopfte Landauer laut und energisch an seine Wohnungstür. Eine ältere Frau, wohl die Mutter von Landauers Gattin, dachte Ehrenfried, öffnete. Ihr Gesicht war überströmt von Tränen. Von Freudentränen. „En Meechen, David! ‚Ne Tochter!“, strahlte sie Landauer an und umarmte ihn heftig. Auf Ehrenfried warf sie nur einen kurzen und gleichgültigen Blick. Der fühlte sich, trotz des aufdringlichen und penetranten Kochdunstes von Schmalz, ausgelassenem Hühnerfett und gebratenen Kartoffeln, der aus der Wohnung drang, plötzlich nicht mehr so fehl am Platze.

      Landauer löste sich aus der klammernden Umarmung seiner Schwiegermutter und ging durch den langen Flur ins Berliner Zimmer. Da lag seine Frau im Bett, unter dem einzigen Fenster des Raumes, das auf den Hinterhof schaute. Sie sah erschöpft aus, hatte einige Schweißperlen auf der Stirn. Im Arm hielt sie das Neugeborene. Landauer schaute dies neue Leben mit einem fast ungläubigen und erstaunten Blick an, strich vorsichtig mit seiner Hand über den kleinen Kopf und küsste seine Frau. „Mazel tov“, sagte er zärtlich und stellte Irina nun Ehrenfried vor. Der dachte für einen Moment an die Geburt seiner Kinder im Krankenhaus und nickte Landauers Frau gütig lächelnd zu. „Mazel tov“, hörte er sich nun etwas zögernd sagen: Ihm war, als ob eine fremde Stimme diese Worte spräche.

      Nun hatte Landauer Tränen in den Augen. Er war ebenso gerührt wie glücklich. Ehrenfried hatte seinen Zwischenmeister so noch niemals erlebt. Seine beiden kleinen Töchter sprangen aufgeregt durch die Wohnung und fuhren mit einem kleinen Holzroller durch den Flur.

      Erst jetzt fiel Ehrenfried auf, dass die Tapeten im Berliner Zimmer alt und vergilbt waren. Aus den Nachbarzimmern hörte er das Geräusch von Nähmaschinen und blickte sich um. Landauer bemerkte dessen leicht fragenden Blick. „Die Leute gehören alle zu unserer Mischpoke. Die bessern mit dem Schmatter unsere Pinunse auf.“

      Auf einem kleinen Beistelltisch lag eine Ausgabe des „Völkischen Beobachters.“ „Sie lesen das?“, wunderte sich Ehrenfried. „Ja, ich lese das manchmal. Ich will wissen, was diese Schufte über uns denken.“ Dann drehte Landauer den Kopf zur Seite, als ob er sich schämte, allzu vertraulich zu Ehrenfried gesprochen zu haben. Landauer ging hinaus und öffnete die Tür zu einem der Zimmer, die vom Flur abgingen. Ehrenfried, der ihm gefolgt war, sah vier Frauen an Nähmaschinen. Sie blickten nicht hoch; sie nähten weiter Kittel und Bordüren. Für sieben Pfennig die Stunde arbeiteten sie auch für die Konfektion von Ehrenfried & Cohn. Sie nähten hier auch die kleinen Namensschilder ins Innenfutter der Damenmäntel von Max Graumann. Es war einer von hunderten Berliner Heimbetrieben, die die Produktion der Konfektion in der Stadt möglich machten.

      An einer Wand erblickte Ehrenfried ein kleines Bücherregal.

      „Ein lesender Zwischenmeister“, dachte er ein wenig amüsiert. Einige der Bücher steckten mit dem Schnitt nach vorn zwischen den anderen. Ohne auf Landauer zu achten, trat er auf das Regal zu und zog eines dieser Bücher heraus. Es war August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“. Ehrenfried steckte das Buch mit dem Schnitt nach vorn zurück in das kleine Regal. Flüchtig dachte er an Gerüchte, Landauer habe früher häufig Versammlungen der KPD besucht. Einmal sei er dort angeblich sogar als Redner aufgetreten. Ehrenfried war diesen Gerüchten nie nachgegangen. Sie waren ihm nicht so wichtig. Wichtig war die Arbeit. Zum Beispiel hier, in Berlin-Mitte, in der Schönhauser Allee 188. Große Kisten mit Kunstblumen, mit Hüten und Schürzen stapelten sich in den anderen Zimmern. Auch sie würden zum Hausvogteiplatz transportiert werden. Landauer beschäftigte in seiner Wohnung mindestens acht Heimarbeiter. Sie schliefen in Stapelbetten in den fünf Zimmern der Wohnung, hier, im vierten Hinterhof.

      Ehrenfried sah auf die Uhr. „Ich muss nun zurück.“, sagte er zu Landauer. „Bleiben Sie doch heute bei Ihrer Frau und Ihrer Tochter.“ Er lächelte, und Landauer schaute ihn, ohne zu antworten, dankbar an. „Morgen sehen wir uns in der Werkstatt wieder.“ Eilig verließ er das Haus. „So kann man also leben. Auch so kann man leben!“, dachte er kurz, als er die Treppe hinabstieg. Flüchtig fiel ihm die Nazizeitung auf dem Tischchen und das Sozialistenbuch aus dem Regal wieder ein. „Ich werde aus manchen Leuten einfach